Handstreich im Bundestag: Wie Abgeordnete um 0:25 Uhr ein Bürgerrecht aushebelten (Update)

In gerade einmal 53 Sekunden hat der Bundestag im Juni 2013 ein Auskunftsrecht für Bürger und Journalisten ausgehebelt. Dadurch sollte offenbar verhindert werden, dass ein kritischer Bericht über die Fraktionsfinanzen an die Öffentlichkeit gelangt. Die Nacht- und Nebelaktion war derart gut getarnt, dass sie monatelang niemandem auffiel.

von Martin Reyher, 14.03.2014

Es ist Freitag, der 14. Juni 2013, 0:25 Uhr. Im Deutschen Bundestag herrscht gähnende Leere, nur in den ersten Reihen harren noch zwei Dutzend Volksvertreter aus. Gleich werden sie in einer ganz großen Koalition ein Bürgerrecht aushebeln.

"Wir kommen zur Schlussabstimmung," ruft Bundestagsvizepräsident Eduard Oswald in den fast verwaisten Saal.

Screenshots (2): Deutscher Bundestag

Dann geht es ganz schnell. Eine Debatte ist nicht vorgesehen, die Reden werden "zu Protokoll gegeben", wie es so schön heißt. Deswegen kommt der Vizepräsident gleich zum Punkt:

"Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben."

"Das sind wieder alle Fraktionen des Hauses," sagt Oswald. "Danke. Vorsichtshalber Gegenprobe: Niemand erhebt sich. Enthaltungen? Da erhebt sich auch niemand. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen."

So fix geht das, wenn im Bundestag ein Bürgerrecht geschleift wird. In ihrer Nacht- und Nebelaktion beschloss die Allparteien-Koalition aus CDU, CSU, FDP, SPD, Grüne und Linke nämlich, dass die Öffentlichkeit über das Informationsfreiheitsgesetz fortan kein grundsätzliches Einsichtsrecht mehr in Akten des Bundesrechnungshofs hat. Für Bürger und Journalisten sind nun ausgerechnet Prüfberichte jener Behörde tabu, die Transparenz beim Staat und in der Politik schaffen soll. Das Magazin STERN, das den Vorgang als erstes recherchierte, hat Anhaltspunkte dafür, warum die Fraktionen diese Gesetzesänderung in seltener Eintracht und im Eilverfahren durchwinkten. Demnach wollten Union, FDP, SPD, Grüne und Linke in letzter Minute verhindern, dass ein kritischer Rechnungshofbericht zu ihren Finanzen an die Öffentlichkeit kommt.

Ein dreiviertel Jahr lang war niemandem aufgefallen, unter welchen Umständen das Informationsfreiheitsgesetz ausgehebelt wurde, bis ein Journalist von ZEIT ONLINE jetzt im Archiv des Bundestages auf die 53-Sekunden-Abstimmung zur Geisterstunde stieß (hier im Video).

Doch damit nicht genug. Denn das einstimmige Votum von CDU-CSU-FDP-SPD-Grüne-Linke an jenem 14. Juni 2013, 0:25 Uhr, war lediglich der Schlussakt einer generalstabsmäßig vorbereiteten Vertuschungsaktion. ZEIT ONLINE beschreibt sehr anschaulich, wie der entscheidene Passus ("Der Bundesrechnungshof kann ... Zugang ... gewähren" - muss es künftig aber nicht mehr) in den Gesetzestext geschleust wurde:

"Das Ende der Wahlperiode nahte, die Zeit drängte. Nun kam jemand auf die Idee – wer, ist im Rückblick nicht mehr zu klären – an der Bundeshaushaltsordnung zu drehen. Für sie ist der Haushaltsausschuss allein zuständig. Der Datenschutzbeauftragte wehrte sich, wurde aber übergangen.

Praktischerweise lag im Haushaltsausschuss gerade ein ganz anderer Vorgang auf dem Tisch, Drucksache 17/13427. Der Bundesrat hatte einen "Entwurf zum Ersten Gesetz zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes" auf den Weg gebracht, darin ging es um eine Sache mit dem spröden Titel Sonderbedarfs-Bundesergänzungs-Zuweisungen. Das sind Geldflüsse des Bundes an die Ost-Länder für die dort strukturell höhere Arbeitslosigkeit. Diesem Entwurf nun wurden am 12. Juni in nicht-öffentlicher Sitzung ein paar Sätze angehängt, die den Paragraf 96 der Bundeshaushaltsordnung um einen folgenschweren Absatz 4 ergänzten. Omnibusgesetz heißt so etwas im Parlamentsbetrieb. Kurz vor Schluss steigen schnell noch ein paar Passagiere in das Gesetzesverfahren ein, die allein für sich nicht durchgegangen wären.

Am Tag darauf ging die Sache ins Plenum und wurde dort in einer der letzten Sitzungen vor der Sommerpause und kurz nach Mitternacht durchgewunken."

Kommt Ihnen irgendwie bekannt vor?

Richtig: da war doch was, und zwar am 9. Juli 2012 um 20:51 Uhr. Ganz Deutschland schaut damals Fußball, Deutschland spielt im EM-Halbfinale gegen Italien, als im Deutschen Bundestag knapp zwei Dutzend Abgeordnete im Eilverfahren - Reden werden zu Protokoll gegeben - das Meldegesetz verabschieden. Eine verbraucherfreundliche Regelung zum Schutz von persönlichen Daten hatte der zuständige Ausschuss tags zuvor in nicht-öffentlicher Sitzung aus dem Gesetzestext gekippt.

Während der Handstreich beim Meldegesetz nach nur wenigen Tagen aufflog, blieb das Schleifen des Informationsfreiheitsgesetzes ein dreiviertel Jahr lang unentdeckt. Die Tarnung war einfach besser.

Update:

Wie Correctiv recherchiert hat, sprach sich der damalige Direktor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und enge Mitarbeiter von Fraktionschef Kauder, Kay Scheller, in einer Mail dafür aus, dass Bürger gar keinen Zugang haben sollten zu dem, was der Bundesrechnungshof bei den Prüfungen der Fraktionsfinanzen herausfindet. Knapp ein Jahr nach seiner Mail wurde Scheller zum Präsidenten des Rechnungshofes gewählt - nun liegt es in seinen Händen, ob Prüfberichte herausgegeben werden oder nicht.

Update 25.4.2015:

Nun ist trotzdem ein kritischer Rechnungshofbericht zu den Fraktionsfinanzen an die Öffentlichkeit gelangt. Wie der SPIEGEL in seiner aktuellen Ausgabe schreibt, beanstanden die Prüfer in einem geheimen Bericht insgesamt 67 fragwürdige Fälle von Öffentlichkeitsarbeit, darunter vor allem PR-Maßnahmen. Angeführt wird die Mängelliste laut SPIEGEL von der SPD-Fraktion mit 28 Fällen, gefolgt von CDU/CSU (16 Fälle), Bündnis 90/Die Grünen (13 Fälle) und der FDP (10 Fälle). Die Linksfraktion tauche in dem Bericht nicht auf, weil die Partei im Prüfzeitraum nicht durchgängig in Fraktionsstärke im Bundestag vertreten war.

"Die Prüfer kritisieren unter anderem Broschüren und Anzeigenkampagnen, die von den Fraktionen in Wahlkampfzeiten veröffentlicht wurden – obwohl das Abgeordnetengesetz den Fraktionen untersagt, ihre Gelder für Partei- oder Wahlkampfzwecke zu verwenden," heißt es in dem SPIEGEL-Bericht.

Update 22.3.2018:

Die Journalisten Daniel Drepper und Niklas Schenck haben mit Unterstützung des Deutschen Journalistenverbandes (DJV) das Bundesinnenministerium verklagt. Drepper, der Chefredakteur von BuzzfeedNewsDeutschland ist, schrieb auf Twitter:

Laut einer Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig argumentieren die Kläger mit einem "fehlerhaften Gesetzgebungsverfahren". 

Ein Urteil sei am heutigen Tage nicht mehr zu erwarten, twitterte Drepper im Anschluss an die mündliche Verhandlung.

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