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Sibylle Centgraf
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Frage von Matthias B. •

Frage an Sibylle Centgraf von Matthias B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Centgraf,

1. wie halten Sie es mit dem Doppelgebot zum Schutz und zur Achtung von Menschenwürde fuer alle staatliche Gewalt in Hinblick auf unsere östlichen Nachbarn? Die Berliner Agrarfakultaet hatte sich im Mai 2002 erklaät und entschuldigt fuer NS-Zwangsarbeit und Völkermord für 25 bis 50 Mio Mittel- und Osteuropaeer im Rahmen damals hochmoderner Raumplanung, siehe
http://www.agrar.hu-berlin.de/fakultaet/history/gpo/020528.htm
Diese wichtige und tröstliche Erklaerung ist aber leider noch nie offiziell nach Warschau, Lublin, Prag, Minsk und Moskau übermittelt worden. Sie sind Landschaftsplanerin, Ihre Fachkollegen damals hatten die Federführung bei den genozidalen Siedlungsplanungen. Ich frage mich angesichts des parlamentarischen Berliner Desinteresses, ob polnische und russische Zivilisten wirklich als vollwertige Menschen gelten oder nicht.

2. Frage zu Transparenz von Behörden: In Charlottenburg, Hardenbergstr. 29 a, gab es früher eine Archivalien- und Beutekunstsammelstelle der SS und des Auswärtigen Amtes. Angesichts der vollständigen Zerstörung von etwa 400 Museen im ns-besetzten Russland und der Sowjetunion waehrend des Krieges hatten wir den Vorschlag einer mehrsprachigen Kennzeichnung dieses historischen Ortes an die Stiftung Topographie des Terrors und das Museum Berlin-Karlshorst gerichtet. Beide Institutionen haben nicht geantwortet (der Petitionsausschuss sah auch keinen Rechtsanspruch auf eine Beantwortung einer einfachen Buergerfrage von Seiten des Museums Berlin-Karlshorst). Wie stehen Sie inhaltlich zum Vorschlag der öffentlichen mehrsprachigen Kennzeichnung dieses Ortes, und teilen Sie die Position des Petitionsausschusses, wonach kein Anspruch auf die Beantwortung einer Bürgerfrage besteht bzw. inhaltlich indirekt auch die vollständige Zerstörung von 400 Museen samt Depots als irrelevant
eingestuft wird?

Ich bin Agraringenieur, Absolvent der TU Berlin und empfinde die 5 großen Parteien als nicht mehr wählbar

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Burchard,

als Jemand, die Krieg und Vertreibung durch ein faschistischen System gottlob nur aus Erzählungen der Großeltern-Generation und durch die Medien kennt, aber nie am eigenen Leib erfahren musste, ist es mir wichtig, was wir als Deutsches Volk daraus gelernt haben:

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." (Art. 1 (1) unserer Verfassung)
Schon in Absatz 2 wird die Universalität dieses Satzes klargestellt. Zu diesen und den weiteren Werten unseres Grundgesetzes bekenne ich mich.

Ihre Fragen scheinen mir insofern vermessen, da Sie mit kollektiven Schuldzuschreibungen argumentieren und Ihren Argwohn gegenüber den "5 großen Parteien" an einem fehlenden mehrsprachigen Schild festmachen. Zu Ihrem Wunsch nach Entschuldigung bei unseren östlichen Nachbarn frage ich: Haben Sie den Kniefall von Willy Brandt vergessen?

Zu 1.: Mehr als 60 Jahr nach Kriegsende haben die meisten Institutionen und Unternehmen ihre Verstrickungen mit dem Naziregime aufgearbeitet und dokumentiert. Sich der Vergangenheit zu stellen und sich zu fragen, wie man an Heilsversprechen glauben oder aus Vorteilsnahme die Augen und Ohren verschließen konnte, vor geschehenem Unrecht ist ein klärender Prozess für jede menschliche Gemeinschaft.

Um die Gesellschaft mitzugestalten, reicht es nicht, den Blick nur zurück zu wenden!! Politiker heute müssen sich fragen, wie sie neuen, totalitären Tendenzen gegenüber treten oder wie wir desillusionierte Jugendliche vom "braunen Mob" und Deutschtümelei fern halten können. Personifiziert sehe ich diese Tendenzen z.B. durch Neonazis, Rechtsradikale und ihre Vereinigungen.

Als Studentin der Landschaftsplanung habe auch ich mich, wie es Ende der 80er Jahre guter Brauch an der TU-Berlin war, mit den Wurzeln meiner Profession und ihrer Rolle während des Dritten Reiches befasst. An unserer Fakultät wurde der Missbrauch des Heimatbegriffes durch die Nationalsozialisten und die Instrumentalisierung der Landschaftsplanung durch die Blut-und-Boden-Ideologie der Faschisten tief greifend bearbeitet. Dokumentiert ist dies u.a. in dem Buch: "Struktur und Geschichte der Landschaftsplanung" herausgegeben von Ulrich Eisel und Stefanie Schultz (Publikation der TU-Berlin, 1991), zu dem ich ein Kapitel beigesteuert habe. Die hier vorgenommene kritische Betrachtung der Profession halte ich noch heute für wegweisend.

Zu 2.:Offensichtlich haben sie mit Ihrem Anliegen nicht den richtigen Ton getroffen und sich nicht an die richtigen Stellen gewandt. Sie hätten Ihr Anliegen z.B. auch der Gedenktafel-Kommission von Charlottenburg-Wilmersdorf vortragen können.
Wenn Sie mit Ihrem Wunsch nach Kennzeichnung keine Mitstreiter gewinnen können, sollten Sie Ihr Anliegen jedoch einer kritischen Prüfung unterziehen. Auch die Fähigkeit zur Selbsthinterfragung und die Bereitschaft die eigenen Anliegen in einen größeren Zusammenhang kritisch zu überprüfen, könnte eine Lehre sein, die sie persönlich aus der deutschen Vergangenheit ziehen.

Mit freundlichen Grüßen

Sibylle Centgraf