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Helmut Kuhne
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Frage von Anna M. •

Frage an Helmut Kuhne von Anna M. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrter Herr Kuhne

Ich bin in der 12. Klasse des Carl Friedrich von Weizsäcker-Gymnasium in Ratingen, NRW, und schreibe zur Zeit eine Facharbeit zum Thema „ Die Türkei-ein zukünftiger Partner der EU?“.
Damit ich in meiner Facharbeit auch auf die Meinung eines Experten zurückgreifen kann würde ich mich freuen wenn sie mir einige Fragen beantworten würden.

· Gefährden die kulturellen Unterschiede das Gemeinschaftsgefühl der EU?´

· Werden die kritischen Zustände in der Türkei wegen der Außenpolitik, die mit ihrem Beitritt deutlich mehr Gewicht erhalten würde, übersehen?

· Hat der Beitritt der Türkei Auswirkungen auf die Fähigkeit der EU handlungsfähig zu bleiben?

· Welche finanziellen Folgen erwarten sie durch den EU-Beitritt der Türkei, und inwieweit haben die Beitrittsverhandlungen und Heranführungshilfen die Eu schon finanziell belastet?

Viele Grüße und vielen Dank im voraus

Anna Müller

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Antwort von
SPD

Sehr geehrte Frau Müller,

vielen Dank für Ihre Fragen. Ich werde versuchen, meine Meinung, nach der Sie gefragt haben, so präzise wie möglich zum Ausdruck zu bringen.

Zunächst: das Europäische Parlament hat mehrfach beschlossen, dass es künftige Erweiterungen nur geben kann, wenn mindestens der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten ist. Die SPD-Abgeordneten im EP haben darüber hinaus als Position festgelegt, dass die Finanzarchitektur der EU grundlegend erneuert werden und die Bevölkerung der Mitgliedstaaten mehrheitlich für solche Erweiterungen sein muss. Die Staats- und Regierungschefs haben beschlossen, dass es neue Beitritte nur geben kann, wenn das jeweilige Kandidatenland alle Beitrittsbedingungen nicht nur auf dem Papier sondern in der Realität erfüllt. Alles das gilt nicht nur im Hinblick auf die Türkei sondern auch für alle anderen, die Mitglied werden wollen.

Mich wundert immer wieder, warum in Deutschland alle Besorgnisse um künftige EU-Erweiterungen um die Türkei kreisen. Diese Entscheidung steht bestenfalls in etwa zehn Jahren an. Dem gegenüber gibt es Bestrebungen, die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien spätestens im Jahre 2010 zum Abschluss zu bringen, einem Land, dessen Kooperation mit dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen anlässlich des Auseinanderbrechens des früheren Jugoslawien fragwürdig ist (erst kürzlich sind möglicherweise belastende Akten gegen einen Angeklagten im Haag "verschwunden") und dessen populärster Popsänger sich "Thompson" (nach der Maschinenpistole der 20er Jahre, mit sich Serben und Kroaten gegenseitig umgebracht haben) nennt, antiserbische Hetzlieder und Lieder der faschistischen Ustascha-Bewegung singt und auf dessen Konzerten sich Regierungsmitglieder feiern lassen. Warum soll eine in zehn Jahren möglicherweise anstehende Entscheidung den Zusammenhalt der EU gefährden, die möglicherweise baldige Aufnahme eines Landes, das noch nicht bewiesen hat, das es mit seinen Nachbarn nachhaltig in Frieden leben kann, aber nicht? Weil es sich bei der Türkei um eine muslimische Bevölkerung handelt, bei den Kroaten aber um Katholiken?

Wenn "kulturelle Unterschiede" im Zusammenhang mit der Türkei thematisiert werden, so ist i.d.R. der Islam gemeint. Religiöse Unterschiede spielen aber laut EU-Vertrag keine Rolle - und dürfen es auch nicht. Wir haben den 30-jährigen Krieg schon mehr als 300 Jahre hinter uns. Allerdings ist richtig, dass es jede Menge anderer kultureller Unterschiede geben kann und gibt. So bin ich der Meinung, dass die nach wie vor gepflegte Kultur des Hasses in den Staaten des früheren Jugoslawien einen Beitritt ausschließt, so lange diese weite Teile der Bevölkerungen umfasst. Aber schauen Sie bitte in die existierende EU: glauben Sie, der durchschnittliche Untertan Ihrer Majestät auf der Insel fühle sich der EU oder gar den Deutschen in einem "Gemeinschaftsgefühl" verbunden? Wenn Sie "Gemeinschaftsgefühl" wollen, dann sind Sie ganz schnell unter uns Deutschen allein.

Kulturelle Unterschiede gibt es in Bezug auf die Türkei in einer Reihe anderer Dinge, so etwa in Bezug auf die Rolle der Frau in den ländlichen Gebieten. Soweit sich diese Unterschiede auf rechtliche Diskriminierung gründen, muss die Türkei ihre Rechtsvorschriften entsprechend ändern; denn Mitglied der EU kann nur werden, wer die Menschenrechte nicht nur auf dem Papier anerkennt sondern auch im Alltag wirksam werden lässt. Andere Fragen betreffen z.B. die Freiheit der Religionsausübung für nicht-muslimische Gruppen oder das Recht auf freie Meinungsäußerung oder gewerkschaftliche Betätigung. Spätestens an dieser Stelle oder bei der Frage nach der Rolle der Armee im politischen System der Türkei verlassen wir den Bereich des "Kulturellen." Es geht um grundlegende politische Fragen, die die Türkei bisher nicht zu unserer Zufriedenheit gelöst hat.

Die kritikwürdigen Zustände in der Türkei sind bekannt und werden nicht aus außenpolitischen Gründen übersehen. So sehr die Türkei außenpolitisch in ihrer Region eine positive Rolle auch im Interesse der EU spielt, so wie sie heute nach innen ist, kann und wird sie kein Mitglied der EU werden. Genau deshalb wird ja verhandelt. Ein Beitritt steht die nächsten Jahre gar nicht auf der Tagesordnung. Es wäre aber Rassismus, würde man unterstellen, dass die Türkei prinzipiell nicht in der Lage wäre, ihr System den Anforderungen der EU anzupassen. Gerade wir Deutschen sollten da vorsichtig sein. Wir hatten das schlimmste Regime des 20. Jahrhunderts, Deutsche haben Millionen umgebracht - und doch nach der militärischen Niederlage eine passable Demokratie zustande gebracht.

Von einem Beitritt der Türkei als feststehender Tatsache kann man aus all diesen Gründen heute nicht ausgehen, weil wir nicht wissen, ob die Türkei die politische Kraft zu den notwendigen Veränderungen aufbringt. Nehmen wir einmal an, sie würde das schaffen, dann müßten die Vorteile einer demokratischen und rechtsstaatlichen Türkei gegen ihr politisches Gewicht innerhalb der EU (Bevölkerungszahl = Stimmgewicht im Rat und Abgeordnetenzahl) und den wirtschaftlichen Entwicklungsstand abgewogen werden. Was den letzten Punkt angeht, so hat die Türkei in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte bei allerdings deutlichen internen Ungleichgewichten gemacht. Insgesamt wird ihr wirtschaftlicher Entwicklungsstand aber nicht schlechter als der etwa von Bulgarien oder Rumänien eingeschätzt.

Damit sind wir bei den finanziellen Aspekten für den EU-Haushalt. Bulgarien und Rumänien erhielten im Jahre 2005 (ein Jahr vor dem Beitritt zum 1.1.2007) an Vorbeitrittshilfen 1.548,4 Mio €, für die Türkei sind für das Jahr 2012, ein Jahr vor dem Ende der aktuellen finanziellen Vorausschau ein Betrag von 899,5 Mio € vorgesehen. Das ist verkraftbar. Für einen eventuellen Status als Mitgliedstaat der EU hat die EU-Kommission bereits im Jahre 2004 "Sonderregelungen" für die Landwirtschaftspolitik und die Strukturförderung ins Gespräch gebracht. Das würde bedeuten, dass die gegenwärtigen finanziellen Regelungen auf die Türkei nur eine abgewandelte Anwendung finden würden - wie im übrigen auch die Regeln für die Landwirtschaft für die Beitrittsländer 2004 und folgende andere sind als für die "alten" EU-Länder.

Ich hoffe, meine Meinung hilft Ihnen weiter.

Mit freundlichen Grüßen!

Helmut Kuhne, MdEP