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Frage von Melanie S. •

Frage an Annette Schavan von Melanie S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Fr. Prof. Dr. Schavan,

Wie stehen Sie grundsätzlich zum Thema Volksentscheide auf Bundesebene? Und inwieweit ist Ihre persönliche Einstellung deckungsgleich mit Ihrer "Parteilinie"?

Mir ist durchaus klar, dass Volksentscheide kein Allheilmittel für die Demokratie sind und ja im konkreten Fall auch zu Problemen führen können. (Z.B. Minarette in der Schweiz)

Aber würde es in einer gefestigten Demokratie wie der unseren, aber mit sinkender Wahlbeteiligung und einer gewissen Politikverdrossenheit nicht dazu beitragen, dass sich die Bürger wieder etwas mehr für Demokratie und Politik interessieren und begeistern können?

In diesem Zusammenhang möchte ich Herrn Eifler zitieren: "Das Vertrauen ins Volk ist einer der Eckpfeiler der Demokratie", sagt Michael Efler, Vorstandssprecher von Mehr Demokratie.

In Meinungsumfragen äußern konstant zwischen 70 und 85 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, dass sie bei wichtigen Zukunftsfragen mitbestimmen wollen.

Wenn Sie grundsätzlich dagegen sind, hätte ich sehr gerne ein ausführliche Begründung von Ihnen für Ihre Haltung.

Wenn Sie grundsätzlich dafür sind, wann starten Sie eine entsprechende Gesetzesinitiative?"

Mit freundlichen Grüßen

Melanie Stegemann

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Antwort von
CDU

Sehr geehrte Frau Stegemann,

vielen Dank für Ihre Frage vom 25. Januar 2010.

Ich halte es für einen Irrtum zu glauben, bei Volksabstimmungen hätte der Einzelne mehr Einfluss. Tatsächlich würde nämlich die Bedeutung von Verbänden und Interessengruppen, die große Kampagnen organisieren können, wachsen. Engagierte Minderheiten erhielten großen Einfluss auf die Staatsgeschicke - ohne dafür dauerhaft in der Verantwortung zu stehen.

Ein Plebiszit bedeutet, auch hoch komplizierte Sachverhalte auf ein Ja oder Nein reduzieren zu müssen. Demgegenüber ist die Entscheidungsfindung im politisch-parlamentarischen Prozess auf einen möglichst gerechten Interessenausgleich sowie auf die Suche nach richtigen Kompromissen ausgerichtet. Plebiszite kennen keine Ausschussberatungen, Sachverständigenanhörungen und keine Beteiligung der Länder. Im Grundgesetz wurde nach den Erfahrungen aus der Weimarer Republik eine strikt repräsentative Demokratie verankert. Auch heute noch sprechen gravierende Gründe gegen eine Aufnahme plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz.

Die Komplexität der Gesetzgebungsverfahren und ihre Vernetzung mit anderen Regelungsbereichen lassen in einer modernen pluralistischen Demokratie eine Ja-Nein-Alternative nicht zu. Gefordert ist ein Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren, das auf ein hohes Maß von Kompromisssuche und -findung angelegt ist. Dafür ist das parlamentarische Verfahren mit seinen drei Lesungen und den Ausschussberatungen am besten geeignet.

Demagogie und Populismus wären bei Plebisziten Tür und Tor geöffnet. Die Emotionalisierung mancher Themen würde bewirken, dass sachfremde Erwägungen in die Entscheidungsprozesse einflössen. Es ginge nicht mehr um die Gesetzgebungsvorhaben an sich, sondern darum, die Regierung oder die Opposition allgemeinpolitisch abzustrafen. Plebiszite sind sehr stark momentanen Stimmungen unterworfen. Würde heute ein Kinderschänder einen grausamen Mord begehen, würde die Zustimmung zur Einführung der Todesstrafe sprunghaft ansteigen, kurzfristig aber wieder abnehmen, weil der unmittelbare emotionale Eindruck des Ereignisses verflogen wäre.

Der Minderheitenschutz wäre gefährdet, weil die abstimmenden Bürger nicht dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Plebiszite geben darüber hinaus aktiven Minderheiten und gut organisierten Vertretern partikularer Interessen das Instrumentarium, ihre Macht auf Bundesebene stärker durchzusetzen. Plebiszite zögen unweigerlich die Schwächung föderaler Strukturen nach sich. Dem Bundesrat, der nicht lediglich eine Summe der Länder, sondern eine selbständige Einheit innerhalb unseres Systems ist, wäre die Möglichkeit der Mitgestaltung genommen. Damit ginge die ausgewogene Balance durch das Miteinander von Bundestag und Bundesrat verloren.

Die Einführung plebiszitärer Elemente würde das parlamentarische System nicht ergänzen, sondern grundlegend verändern. Das ausbalancierte Verhältnis der Verfassungsorgane müsste neu justiert werden. Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und auch das Bundesverfassungsgericht erlitten Einbußen in ihren Befugnissen, die anderweitig kompensiert werden müssten. Bisher bildet die Bundestagsmehrheit zusammen mit der Bundesregierung eine „Staatsleitung zur gesamten Hand“. Meines Erachtens überwiegen die Argumente gegen Volksentscheide also erheblich.

Seien Sie herzlich und mit guten Wünschen gegrüßt.

Ihre Annette Schavan