Portrait von Anna Cavazzini
Anna Cavazzini
Bündnis 90/Die Grünen
100 %
37 / 37 Fragen beantwortet
Frage von Roland W. •

Frage an Anna Cavazzini von Roland W. bezüglich Finanzen

Guten Tag Frau Cavazzini,

wie können Sie von Brüssel aus den komfortverwöhnten Unternehmen und Menschen -vor allem in Deutschland- die Notwändigkeit von mittelfristigen Einschnitten in den eigenen Wohlstand klarmachen, wenn wir umgehend sehr viel Geld in die Bildung, in die neuen Energien (und den Rückbau der alten), in Wohnraumversorgung, in ein Grundeinkommen, in eine NATOtaugliche Bundeswehr, in staatliche Investitionen in viele dt. Gebiete (vor allem östliche) zur Belebung von Wirtschaft/Arbeitsmarkt und in die Pflege stecken müssen, weil wir sonst immer größere soziale, politische und ökologische Verwerfungen erleben werden (was z.T. weniger die gesetzten Generationen betrifft, sondern die jüngere, die zurecht Angst hat)?

Freundlicher Gruß von R. W..

Portrait von Anna Cavazzini
Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr W.,

ich gebe Ihnen vollkommen Recht, die von Ihnen angesprochenen Themen und Probleme benötigen eine ausreichende Finanzierung. Als Grüne will ich, dass diese Finanzierung gerecht ist: Starke Schultern müssen auch mehr beitragen. Mit einer gerechten Finanzierung ist meiner Meinung nach ein auf europäischer Ebene stärker reguliertes Steuersystem verbunden. Der gemeinsame europäische Binnenmarkt ist zwar ohne Frage eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Doch momentan lädt er wegen seiner Lücken in der Steuerpolitik, die nach wie vor in der primären Hoheit der Mitgliedstaaten liegt, zur Steuervermeidung ein: Große Unternehmen können derzeit überall in Europa ihre Produkte verkaufen und gleichzeitig nur im Land mit den niedrigsten Steuern ihre Gewinne versteuern. Wie sie angesprochen haben, verabschieden sich damit gerade große Unternehmen, die Rekordgewinne erzielen, aus der gesellschaftlichen Solidarität. Das schädigt unser Gemeinwesen und alle ehrlichen Steuerzahler*innen. Ich will deshalb, dass große Unternehmen endlich ihre Steuern da zahlen, wo sie ihre Gewinne erwirtschaften. Da es sich bei dem von ihnen angesprochenen Problem um ein sehr komplexes Thema handelt und ich ihre Frage dennoch angemessen beantworten möchte, würde ich gerne auf die folgenden drei Bereiche ausführlich eingehen: Steuerdumping, Unternehmensmindeststeuer sowie Steuerhinterziehung und Geldwäsche.

Steuerdumping beenden
Einige Mitgliedstaaten haben es zu ihrem Geschäftsmodell gemacht, sich gegenüber dem Rest der EU durch niedrige Steuersätze oder großzügige Ausnahmen attraktiv für Unternehmen zu machen. Die Einzigen, die davon langfristig profitieren, sind internationale Unternehmen, die damit ihre Renditen steigern. Die Steuervermeidung untergräbt das Fundament unserer Wohlfahrtsstaatsmodelle in Europa. Denn die Praxis treibt indirekt Menschen in die Armut und Staaten dazu, dass sie nicht in das Wohl ihrer Bürger*innen investieren können. Die Steuerbelastung verschiebt sich damit immer mehr zu denen, die sich ihr nicht entziehen können: kleinen Unternehmen, Arbeitnehmer*innen und Konsument*innen. Als Grüne wollen wir dieses Geschäftsmodell beenden.
Die EU-Kommission hat – gerade unter dem Druck von uns GRÜNEN – endlich damit begonnen, individuelle Absprachen zwischen Mitgliedstaaten und Großunternehmen als illegale staatliche Beihilfen zu verfolgen und auch zu ahnden. Das geht in die richtige Richtung. Aber das reicht nicht: Wir wollen das europäische Wettbewerbsrecht so verändern, dass es zur scharfen Waffe wird, mit der die EU-Kommission den zerstörerischen Steuerwettbewerb auf Kosten der anderen Mitgliedstaaten bekämpfen kann.

Europäische Unternehmensmindeststeuer
Wer europaweit verkaufen darf, muss auch europaweit gleichwertig besteuert werden. Deshalb ist eine einheitliche Unternehmensbesteuerung die logische Fortsetzung des Binnenmarktes. Technisch gesehen, wollen wir in einem ersten Schritt eine gemeinsame konsolidierte Bemessungsgrundlage für die Besteuerung von Unternehmen im Binnenmarkt. Für die Unternehmen wäre das eine Vereinfachung. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen führt ein einheitliches Steuerrecht dazu, dass sie leichter auch in anderen Mitgliedstaaten tätig werden können. Es soll einen europäischen Mindeststeuersatz für alle Unternehmensgewinne geben. Im zweiten Schritt soll dann zeitnah die europäische Unternehmenssteuer folgen, damit es endlich eine echte europäische Einnahmequelle gibt. Ein Teil der Einnahmen aus dem Mindeststeuersatz soll direkt in den Haushalt fließen. Die Mitgliedstaaten können und sollen Steuersätze festlegen, die über dem Mindeststeuersatz liegen. Die Einnahmen daraus fließen in ihre nationalen bzw. kommunalen Haushalte. In Deutschland werden wir darauf achten, dass diese Reform nicht zulasten von Städten und Gemeinden geht.

Steuerhinterziehung und Geldwäsche bekämpfen
Mit der Abschaffung des Bankgeheimnisses und der Einführung eines internationalen automatischen Informationsaustauschs wurde ein entscheidender Sieg gegen Steuerhinterziehung erzielt. Auch das Transparenzregister der EU für Unternehmen ist ein großer grüner Erfolg gegen kriminelle Geldgeschäfte. Doch selbst in Deutschland hapert die Umsetzung. Die Eigentümer vieler Unternehmen sind immer noch nicht transparent. Gerade Immobilien müssten der Spekulation durch kriminelles Geld europaweit entzogen werden.
Die EU-Kommission schätzt, dass Europas ehrliche Steuer-zahler*innen jedes Jahr um mindestens 50 Milliarden Euro durch Steuerbetrüger bei der Mehrwertsteuer geprellt werden. Die Kommission hat einen Plan für ein einheitliches Mehrwertsteuergebiet in der EU vorgelegt, der den Kriminellen das Handwerk legen soll. Die Bundesregierung blockiert auch hier in Brüssel einen Fortschritt. Wir unterstützen das Vorhaben der Kommission.
Unser langfristiges Ziel ist es, dass korrupte Individuen und ihr Kapital sich in der EU nicht länger verstecken können. Beim Kauf von teuren Wohnungen, Luxusautos, Jachten und dergleichen soll wie in Großbritannien kontrolliert werden können, ob das Vermögen auf legalem Weg erworben wurde. Die EU sollte öfter Sanktionen gegen korrupte Individuen aus Drittstaaten verhängen und ihnen die Einreise und den Aufenthalt in der EU verweigern. Aufenthaltsgenehmigungen und Staatsbürgerschaften sollten die Mitgliedstaaten nach fairen Verfahren vergeben und nicht als „goldene Visa“ an Kriminelle verkaufen können.

Außerdem fordern wir, die Subventionen für Fossile abzuschaffen. Auch mit solchen Maßnahmen können mehr finanzielle Mittel für Investitionen in das Gemeinwohl generiert werden.

Auch wenn ich teilweise sehr weit ausholen musste, hoffe ich dennoch, dass ich ihre komplexe und gleichzeitig sehr wichtige Frage angemessen beantworten konnte.

Mit freundlichen Grüßen,
Anna Cavazzini

Was möchten Sie wissen von:
Portrait von Anna Cavazzini
Anna Cavazzini
Bündnis 90/Die Grünen