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Jan Mücke
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Frage von Thomas S. •

Frage an Jan Mücke von Thomas S. bezüglich Wirtschaft

Sehr geehrter Herr Mücke,

Der ESM-Vertrag gleicht einer Art "Ermächtigungsgesetz":

Art. 8, Abs. 1 Das genehmigte Stammkapital beträgt 700 Milliarden EUR.
Art. 10, Abs. 1 [...] Der Gouverneursrat kann beschließen, das genehmigte Stammkapital zu verändern und Artikel 8 [...] entsprechend zu ändern.

Das Stammkapital (und damit Deutschlands Anteil) kann nach belieben (!) erhöht werden.

Art. 32 Abs. 3 Der ESM, sein Eigentum, seine Mittelausstattung und seine Vermögenswerte genießen unabhängig davon, wo und in wessen Besitz sie sich befinden, Immunität von gerichtlichen Verfahren jeder Art [...]
Art. 32 Abs. 4 Das Eigentum, die Mittelausstattung und die Vermögenswerte des ESM genießen [...] Immunität von Durchsuchung, Beschlagnahme, Einziehung, Enteignung und jeder sonstigen Form des Zugriffs durch vollziehende, gerichtliche, administrative oder gesetzgeberische Maßnahmen.
Art. 35 Abs. 1 Im Interesse des ESM genießen der Vorsitzende des Gouverneursrats, die Mitglieder des Gouverneursrats, die stellvertretenden Mitglieder des Gouverneursrats, die Mitglieder des Direktoriums, die stellvertretenden Mitglieder des Direktoriums sowie der Geschäftsführende Direktor und die anderen Bediensteten des ESM Immunität von der Gerichtsbarkeit hinsichtlich ihrer in amtlicher Eigenschaft vorgenommenen Handlungen und Unverletzlichkeit hinsichtlich ihrer amtlichen Schriftstücke und Unterlagen.

Der ESM und seine Mitarbeiter befinden sich in einem rechtsfreien Raum!!!

Der ESM erhält beliebig viel Geld. Was mit dem Geld geschieht, unterliegt keiner Kontrolle. Gerichtsbarkeit und demokratische Legitimation sind nicht vorhanden. Mit dem ESM-Vertrag wird ein "Ermächtigungsgesetz" installiert. Werden Sie dem ESM-Vertrag am 29. Juni zustimmen? Können Sie den Wählern und Wählerinnen verdeutlichen, warum sie in den Artikeln und dem ESM insgesamt keine Probleme sehen?

Mit freundlichen Grüßen
Thomas Steiding

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Antwort von
FDP

Sehr geehrter Herr Steiding,

vielen Dank für Ihre Fragen vom 23. Juni 2012, in der Sie mich zu meiner Position zum ESM und zum Stammkapital bitten. Gerne werde ich Ihnen ihre Fragen beantworten.

Zum ESM:

der Fiskalvertrag als große Errungenschaft, die die Bundesregierung in mühsamen Verhandlungen mit weiteren 24 Staaten der EU erreicht hat, ist die Voraussetzung für die Überwindung der Staatsschuldenkrise und Grundlage für eine neue Stabilitätskultur in Europa.

Durch den Fiskalvertrag findet keine Übertragung von nationalen Haushaltszuständigkeiten auf die Kommission statt. Ziel ist es, die Konstruktionsfehler der Währungsunion zu korrigieren. Eine funktionierende Währungsunion setzt voraus, dass alle Mitgliedstaaten von alleine solide Wirtschaften und wettbewerbsfähig sind.

Um die zu hohe Staatsverschuldung schnellstmöglich zurückzuführen und zukünftige exzessive Staatsverschuldung nachhaltig zu vermeiden, ergänzt und verschärft der Fiskalvertrag das bestehende EU-Regelwerk zur haushaltspolitischen Überwachung, d. h. den Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie die sechs EU-Rechtsakte zur Stärkung der haushalts- und wirtschaftspolitischen Überwachung (sog. „sixpack“).

Im Wesentlichen enthält der Vertrag folgende Neuerungen gegenüber der bestehenden Rechtslage:

- Der Vertrag sieht ehrgeizige Vorgaben für nationale Schuldenbremsen vor. Das gesamtstaatliche strukturelle Defizit darf die Obergrenze von 0,5 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht übersteigen, solange die Schuldenquote nicht deutlich unter 60 % liegt. Die Verantwortung für solide Finanzen liegt damit da, wo sie hingehört: auf nationaler Ebene.

- Die Umsetzung in nationales Recht muss mit starker und permanenter Bindungswirkung, vorzugsweise auf Verfassungsebene, erfolgen. Die Umsetzung kann durch eine Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) durchgesetzt werden. Für den Fall der Nichtbefolgung von EuGH-Urteilen sind Strafzahlungen von bis zu 0,1 % des BIP an den ESM vorgesehen.

- Mitgliedstaaten, die sich in einem Defizitverfahren befinden, müssen ein Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramm auflegen. Die Eröffnung und alle weiteren Beschlüsse im Rahmen eines Defizitverfahrens werden hinsichtlich der Nichteinhaltung des Defizitkriteriums zukünftig quasi-automatisch erfolgen (umgekehrte qualifizierte Mehrheitsentscheidung).

- Die Vertragsparteien verpflichten sich zu einer verstärkten wirtschaftspolitischen Koordinierung. Der Vertrag regelt ein Verfahren zu einer besseren politischen Steuerung des Euro-Währungsgebiets in Gestalt von regelmäßigen, mindestens zwei Mal im Jahr stattfindenden Tagungen des Euro-Gipfels.

- Nicht zuletzt wird die Möglichkeit einer Konferenz von Vertretern des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente zu Fragen der Haushaltspolitik und anderer vom Vertrag erfasster Angelegenheiten vorgesehen.

Der Fiskalvertrag soll mit diesen Regelungen einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Mitgliedstaaten an die gemeinsam vereinbarten Regeln halten.

Zum Stammkapital:

Die Festschreibung des Nennwerts als maßgeblichen Wert für die Ausgabe von Anteilen gilt nach dem ESM-Vertrag (Artikel 8) für das gesamte anfängliche Kapital des ESM von 700 Mrd. Euro, d.h. sowohl für das einzuzahlende Kapital von 80 Mrd. Euro als auch das abrufbare Kapital von 620 Mrd. Euro.

Die Mitgliedstaaten verpflichten sich mit der Ratifizierung des ESM-Vertrags dazu, ihren Anteil an den insgesamt 700 Mrd. Euro Kapital zum Nennwert bereitzustellen. Für Deutschland sind das rund 21,7 Mrd. Euro einzuzahlendes und rund 168,3 Mrd. Euro abrufbares Kapital. Die grundsätzliche Möglichkeit zur Ausgabe von Anteilen zu einem anderen als dem Nennwert ändert deshalb nichts daran, dass die Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland durch Ratifizierung des ESM-Vertrages zur Bereitstellung von rund 21,7 Mrd. Euro einzuzahlendes und 168,3 Mrd. Euro abrufbares Kapital beschränkt sind. Der deutsche Anteil beträgt in diesem Jahr rund 8,7 Milliarden Euro, den der Bundestag mit einem Nachtragshaushalt bereitgestellt hat.

Die Entscheidung über eine Ausgabe von Anteilen zu einem anderen als dem Nennwert setzt überdies zwingend einen einstimmigen Beschluss des Gouverneursrats voraus und kann und nur bei einer Änderung des Stammkapitals in Betracht kommen (weil Art. 8 Abs. 1 die Einteilung des ursprünglichen Stammkapitals in Anteile zum Nennwert ja bereits dezidiert vorschreibt). Eine solche Erhöhung des Stammkapitals und entsprechende Verpflichtungen der ESM-Mitglieder zur Einzahlung von zusätzlichem Kapital bzw. zur Bereitstellung von abrufbarem Kapital bedürfen in Deutschland aber zwingend einer gesetzlichen Regelung, dies wird im Ratifizierungsgesetz zum ESM-Vertrag ausdrücklich klargestellt.

Das heißt ohne Zustimmung des Bundestages könnte von der abstrakten Möglichkeit zur Ausgabe von Anteilen zu einem anderen als dem Nennwert kein Gebrauch gemacht werden.

Ich hoffe Ihnen mit meiner Antwort weitergeholfen zu haben und verbleibe

mit meinen besten Grüßen

Jan Mücke