Eigentlich sollte an diesem Dienstag im EU-Rat über eine verpflichtende Sperrklausel zwischen 2 und 5 Prozent ab der übernächsten Europawahl abgestimmt werden, doch dann kam alles ganz anders. Wegen des massiven Widerstandes von Belgien, vor allem der flämischen Regierungspartei N-VA, vertagte das Gremium die Schlussabstimmung.
Bisher kann jedes Land frei entscheiden, ob und welche Hürde es anwendet, solange die 5 Prozent nicht überschritten werden. Manche Länder haben dementsprechend eine Sperrklausel, andere nicht. Die neue verpflichtende Klausel soll künftig für alle größeren EU-Länder gelten, die mehr als 35 Abgeordnete ins Parlament entsenden, darunter auch Deutschland mit derzeit 96 Sitzen.
Piratenpartei prüft rechtliche Schritte
In Deutschland regt sich Widerstand der kleineren Parteien gegen die Wiedereinführung einer Sperrklausel, die u.a. von der Bundesregierung vorangetrieben wird. Millionen Wählerstimmen würden durch die Regelung unter den Tisch fallen, kritisiert zum Beispiel die Piratenpartei, die derzeit mit einer Abgeordneten im Europaparlament vertreten ist. „Wir prüfen rechtliche Schritte gegen diesen Angriff auf unser Grundgesetz und den Wählerwillen, insbesondere einen Antrag auf einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts“, erklärte der Bundesvorsitzende der Piraten, Carsten Sawosch. Der Europaabgeordnete der Partei Die Partei, Martin Sonneborn, kommentierte das Vorhaben bei Twitter wie folgt: „Für Militäreinsätze, gegen GG, Kleinparteien & Demokratie!“ Belgien sei das einzige Land, „das die deutsche Forderung nach einer Sperrklausel zur EU-Wahl 2019 (noch) blockiert“. Die Stimme Belgiens ist entscheidend, da der Beschluss einstimmig erfolgen muss.
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Sperrklauseln wie die zur Europawahl oder die bestehende Fünf-Prozent-Hürde auf Bundesebene sind seit langem Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Kritiker halten sie für undemokratisch, da so bei der Mandatsverteilung die Stimmen von Millionen Wählerinnen und Wählern unberücksichtigt bleiben können. Befürworter halten Sperrklauseln für notwendig, um einer Unregierbarkeit durch Parteienzersplitterung entgegenzuwirken.
Bundesverfassungsgerichte kippte 2014 die Drei-Prozent-Hürde
Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren gleich zweimal die hierzulande eingeführten Sperrklauseln zur Europawahl gekippt, zuletzt 2014. „Der mit der Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien ist unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen nicht zu rechtfertigen“, schrieben die Richter damals in ihrem Urteil.
Aus Sicht der Bundesregierung braucht es eine Sperrklausel, um einer Zersplitterung des EU-Parlaments vorzubeugen. Das aber ist, zumindest was Deutschland angeht, wenig überzeugend: Von den sieben Abgeordneten kleinerer Parteien haben sich fünf einer Fraktion angeschlossen. So bildet Julia Reda, die für die Piratenpartei im Europaparlament sitzt, eine Fraktionsgemeinschaft mit den Grünen. Ulrike Müller von den Freien Wählern ist Fraktionskollegin der FDP-Parlamentarier.
Das tatsächliche Interesse der Großen Koalition an einer Wiedereinführung der Sperrklausel dürfte ein anderes sein. Je weniger Parteien bei künftigen Europawahlen ins EU-Parlament einziehen, desto mehr Mandate entfallen auf die übrigen Parteien. Bei der vergangenen Wahl 2014 gingen insgesamt sieben Sitze an Parteien, die mit einer 3 Prozent-Hürde nicht im EU-Parlament vertreten gewesen wären (Die Partei, Familienpartei, Freie Wähler, NPD, ödp, Piratenpartei, Tierschutzpartei, für die mehr als 2 Mio. Wählerinnen und Wähler gestimmt hatten). In einem solchen Fall wären die Mandate nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel auf CDU, SPD, Grüne, Linke, AfD, CSU oder FDP verteilt worden.
Anmerkung I: Nach einer kritischen Wortmeldung auf Twitter zur Bewertung der Sperrklausel haben wir den Text im dritten Absatz überarbeitet.
Anmerkung II: Nach der Vertagung der Schlussabstimmung im EU-Rat haben wir den Text entsprechend aktualisiert.
Kommentare
Felix Staratschek am 22.04.2018 um 11:04 Uhr
PermalinkBeim Bundestag und den Landtagen halte ich die Art der 5%-Hürde für Verfassungswidrig, sagte das das Bundesverfassungsgericht, dass eine Sperrklausel nie strenger sein darf, als es zu dem Zweck nötig ist, die Mehrheitsfindung zu erleichtern. Es hat jetzt keinen Zweck fundamental gegen eine Sperrklausel zu sein, wenn so geurteilt wird. Aber diese Aussage sollte einen anregen, nach Gründen zu suchen. dass die aktuelle Sperrklasuel zu streng ist.
Und das ist diese!
Denn um die Mehrheitsfindung zu erleichtern, reicht es, den Abgeordneten kleiner Parteien das Stimmrecht für die Kanzlerwahl und einfache Gesetze zu entziehen. Bei Abstimmungen über das Grundgesetz sollen jedoch alle Stimmrecht haben, damit die 2/3-Mehrheit auch durch den Wählerwillen erreicht wird.
Denn es gibt im Bundestag nicht nur die Abstimmungen.
Beratende Abgeordnete ohne Stimmrecht.....
.....haben Rederecht
.....können Fragen stellen
.....können Unterstützer für eigene Anträge suchen oder andere Anträge bei der Zulassung unterstützen
....können Kurzinterventionen abgeben
....können ihr Fachwissen in Ausschüsse tragen
.....sind über alles was im Bundestag passiert gut informiert und können notfalls die Öffentlichkeit informieren.
.....unterscheiden sich kaum von von anderen Abgeordneten der Opposition, da deren Stimmrecht gegen eine stabile Koalition fast nichts bewegen kann.
.....sorgen dafür, dass die Debatten im Bundestag so geführt werden, dass alle Wähler verbal vertreten werden.
.....beseitigen das Pseudoargument der sogenannten "verlorenen Stimme", da fast jede Stimme die Chance hat, etwas zu bewegen.
.....bringen frühzeitig wichtige Themen in die Debatten, die die großen Parteien noch nicht auf dem Schirm haben.
.....verstärken den politischen Wettbewerb, so dass sich die Vertreter der großen Parteien durch gute Politik mehr anstrengen müssen, die Sitze zu behalten.
Sinnvoll wären getrennte Wahlzettel für Erst- und Zweitstimme. Dann könnten Direktkandidaten per Zustimmungswahl gewählt werden, in dem man mehrere Personen ankreuzen kann. Es gewinnt die Person, die so die meisten Stimmen bekommt. Heute können Personen gewählt werden, die die Mehrheit der Wähler für untragbar hält.
Matthias Kassner am 22.04.2018 um 12:24 Uhr
Antwort auf von Felix Staratschek
PermalinkAbgeordnete ohne Stimmrecht sind Abgeordnete 2. Klasse. Das fände ich auch nicht gut!
Grundsätzlich sollte man die Bevölkerung direkt über Sachthemen und auch den Kanzler abstimmen lassen, dann wären alle Abgeordnete im Prinzip nur noch beratend tätig!
Tina am 16.07.2018 um 18:26 Uhr
Antwort auf von Felix Staratschek
PermalinkEntfernt. Nutzen Sie den Kommentarbereich bitte um sich sachlich über den Artikelinhalt auszutauschen. Danke, die Redaktion/db
Frank Wagner am 23.04.2018 um 14:33 Uhr
PermalinkWas ist das denn fuer eine feudale Logik, weil die Waehler zu heterogen in ihren politischen Ansichten sind, wird kurzerhand einem Teil der Waehlerschaft per Gesetz faktisch das Wahlrecht entzogen. Nichts anderes sind diese Klauseln, warum nicht gleich eine 30% Klausel, dann haette es die Regierung ganz einfach und koennte nur noch Nebentaetigkeiten nachgehen und sich von Aserbaidschan oder sonstigen Diktaturen kaufen lassen. Man muss sich nur mal theoretisch folgendes Szenario vorstellen, man habe 20 Parteien, und 19 Parteien bekommen 4.9% der Stimmen und eine 5.1% der Stimmen, dann wuerde Letztere 100% der Parlamentssitze bekommen und koennte das GG fast beliebig aendern. Das soll also Demokratie sein? Man kann auch mit Minderheitsregierungen regieren, das soll woanders sogar gut funktionieren. Aber gut durchregieren ist dann nicht mehr, aber wer das bedauert, waere sowieso in einer Diktatur besser aufgehoben.
beni am 04.07.2018 um 14:45 Uhr
PermalinkKleinparteien der Parteien-Bundeskonferenz stellen sich entschieden gegen jede Hürde bei EU-Wahlen!
Mit großer Besorgnis sehen die folgenden im demokratischen Prozess entstehenden oder entstandenen Parteien die Bemühungen der deutschen Bundesregierung, für die Wahlen zum Europaparlament eine Sperrklausel einzuführen. Dem Vernehmen nach soll diese bei drei Prozent liegen. Unter Verletzung der Leitlinien der sogenannten Venedig-Kommission des Europarates, denen zufolge es in den zwölf Monaten vor einer Wahl keine grundlegenden Wahlrechtsänderungen mehr geben sollte, betreibt die Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD dieses Vorhaben bereits für die Wahlen im Mai 2019. Alle nachstehend genannten Parteien wenden sich in aller Schärfe gegen diesen Versuch, die demokratische Willensbildung gerade in Zeiten, wo Bürgerinnen und Bürger wieder verstärkt Einfluss ausüben wollen, zu behindern und einzuschränken. Die unterzeichnenden demokratischen Parteien werden diese Veränderung nicht nur nicht hinnehmen, sondern mit politischen und rechtlichen Mitteln verhindern.
An der 3. Parteien-Konferenz nahmen zuletzt teil: Diem25, Piraten, die PARTEI, Demokratie in Bewegung, Die feministische Partei Die Frauen, Die Urbane, Mieterpartei, die Violetten, die Eine-Welt-Partei, die Selbstbestimmungspartei und die bergpartei, die überpartei. Die Erklärung wurde von der Volt-Partei vorgeschlagen.
https://mobil.openpr.de/index.php?go=article&prid=1010067
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