Einen ungewohnt offenen Einblick in fraktionsinterne Abläufe hat jetzt der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler in einer Antwort auf abgeordnetenwatch.de gegeben.
"Jeder Abgeordnete", so Gauweiler, "muss nach seiner Fraktionsordnung einen Tag vor der Abstimmung schriftlich anzeigen, wenn er bei der Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will." Zugespitzt könnte man sagen: In Deutschland muss sogar das freie Gewissen bei der Fraktionsführung angemeldet werden.
Gauweiler weiß wovon er spricht. Der CSU-Abgeordnete hat in dieser Wahlperiode mindestens sieben Mal gegen die eigene Fraktion gestimmt, beim Rettungspaket für Griechenland zog er sogar gegen den Antrag der schwarz-gelben Bundesregierung vors Verfassungsgericht. Zuletzt machte er Schlagzeilen mit einer Anfrage an die Regierung zum Hintergrund des Rücktritts von Horst Köhler. Gauweiler will Auskunft darüber, ob "die Bundesregierung den Bundespräsidenten bedrängt oder gedrängt” (hat), das Euro-Rettungspaket schnellstmöglich zu unterschreiben. Gauweiler ist also alles andere als ein Abnicker.
abgeordnetenwatch.de hat heute die Parlamentarischen Geschäftsführer der fünf Bundestagsfraktionen um eine Stellungnahme zu folgenden Fragen gebeten:
- Muss ein Abgeordneter laut Ihrer Fraktionsordnung vor einer Abstimmung schriftlich anzeigen, wenn er bei der Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will?
- Wenn ja: Warum ist dies so?
- Wird oder wurde in Ihrer Fraktion vor wichtigen Abstimmungen und bei knappen Mehrheiten (während Ihrer Regierungsbeteiligung) Abweichlern direkt oder indirekt mit Sanktionen gedroht (z.B. Nichtberücksichtigung bei Listenaufstellung)?
Die Antworten von Peter Altmaier (CDU/CSU), Thomas Oppermann (SPD), Jörg van Essen (FDP), Dagmar Enkelmann (Die Linke) und Volker Beck (Grüne) werden wir hier im Blog veröffentlichen.
Nachtrag vom 18.06.2010, 10:55 Uhr: Leser Sven weist in den Kommentaren auf eine aktuelle Petition zum Verbot von Probeabstimmungen und Fraktionszwang hin: https://epetitionen.bundestag.de/petition=12307
Nachtrag vom 18.06.2010, 11:00 Uhr: Die erste Antwort auf unsere Anfrage kommt vom Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Jörg van Essen. Er schreibt:
Eine Regelung in der Geschäftsordnung der FDP-Bundestagsfraktion, nach der ein Abgeordneter schriftlich anzeigen muss, wenn er bei einer Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will, gibt es nicht. Allerdings bitten wir darum, ein abweichendes Stimmverhalten bei namentlichen Abstimmungen der Fraktionsvorsitzenden oder dem 1. Parlamentarischen Geschäftsführer mitzuteilen, damit eingeschätzt werden kann, ob die notwendige Mehrheit für die beschlossene Fraktionsmeinung im Plenum auch erreicht werden kann. Ein Drohen mit Sanktionen (Konsequenzen bei der Listenaufstellung) hat es in meiner nunmehr 16-jährigen Tätigkeit als 1. Parlamentarischer Geschäftsführer nicht gegeben.
Nachtrag vom 21.06.2010, 10:10 Uhr: Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Linken, Dagmar Enkelmann, beantwortet unsere Anfrage wiefolgt:
In der geltenden Geschäftsordnung der Fraktion DIE LINKE existiert keine Vorschrift, dass ein Abgeordneter vorher schriftlich oder auf andere Weise anzuzeigen hätte, wenn sie oder er anders abstimmen will, als dies die Abstimmungsempfehlung der Fraktion vorschlägt. Auch bei wichtigen Abstimmungen oder knappen Mehrheiten gibt es, wie bei jeder anderen Abstimmung, in der Fraktion DIE LINKE keine Sanktionen, auch keine Androhung solcher.
Nachtrag vom 30.06.2010, 10:30 Uhr: Nicht geantwortet haben bislang die Parlamentarischen Geschäftsführer von CDU/CSU, SPD und Grüne. Auf telefonische Nachfrage wurde uns mitgeteilt, dass dies mit der Organisation der Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten sowie mit der Urlaubszeit zusammenhänge. Man wolle die Anfrage aber beantworten.
Nachtrag vom 21.07.2010: Vier Wochen gewartet, und immer noch keine Antwort von Peter Altmaier, Thomas Oppermann und Volker Beck zum Umgang mit Abweichlern in der eigenen Fraktion. Nach einer telefonischen sowie einer schriftlichen Bitte um Rückmeldung liegt der Schluss nahe: Den Parlamentarischen Geschäftsführern von CDU/CSU, SPD und Grünen ist das Thema eher unangenehm.
Nachtrag vom 09.08.2010: Heute erreichte uns ein ausführlicher Brief des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann (im folgenden ungekürzt):
Es gibt in der Geschäftsordnung der SPD-Bundestagsfraktion keine Regelung zum Stimmverhalten. Es gibt jedoch einen einstimmig zu Beginn der Legislatur verabschiedeten Beschluss über das Selbstverständnis der Fraktion. Darin ist festgehalten, dass es dem Selbstverständnis der Fraktion entspricht, in der Fraktion getroffene Entscheidungen geschlossen im Bundestag zu vertreten. Ausdrücklich ist festgehalten, dass die „Legitimität von abweichenden Stimmverhalten in Gewissensfragen davon unberührt ist“. Es wird jedoch erwartet, dass Mitglieder der Fraktion ein solches abweichendes Stimmverhalten der Fraktion vorher mitteilen. Sanktionen sind nicht vorgesehen. Insbesondere kann die Fraktion eine Nichtberücksichtigung bei der Listenaufstellung gar nicht androhen, weil die Listenaufstellung in der Autonomie der Landesverbände liegt. Hintergrund dieser Regelung sind folgende Überlegungen: Jeder Abgeordnete ist nur seinem Gewissen verpflichtet. Ein Fraktionszwang, also der Zwang in einer bestimmten Art und Weise abzustimmen, ist daher in der SPD-Bundestagsfraktion zu Recht ausgeschlossen. Richtigerweise kann und muss es aber eine Fraktionsdisziplin geben, d.h. der freiwillige Entschluss der Abgeordneten einen mehrheitlich gefassten Beschluss der Fraktion im Bundestag zu unterstützen. Jede Fraktion muss sich, um Beschlüsse im Bundestag durchzusetzen, auf ihre Abgeordneten verlassen können. Nur wenn die Abgeordneten abstimmen, kann die Fraktion im Bundestag etwas erreichen. Umgekehrt kann ein einzelner Abgeordneter im Bundestag in den meisten Sachfragen nur dann etwas erreichen, wenn seine Fraktion ihn bei den Abstimmungen unterstützt. Außerdem kandidiert der einzelne Abgeordnete in unserem parlamentarischen System in der Regel ja gerade nicht als Einzelkandidat sondern im Namen einer Partei. Damit müssen Beschlüsse der Partei und der Fraktion auch ein Maßstab für das Handeln der Abgeordneten im Bundestag sein. Davon unberührt bleibt – wie dargestellt – ein abweichendes Stimmverhalten in Gewissensfragen.
Kommentare
In eigener Sache: Warum Abgeordnetenwatch die Kommentar-Funktion abgeschaltet hat
Axel Hansen am 17.06.2010 um 23:17 Uhr
PermalinkFrage: gilt die Gewissensfreiheit auch für die Wahl des Bundespräsidenten?
Stefan am 17.06.2010 um 23:56 Uhr
PermalinkJa die gilt auch für die Bundesversammlung. Das ist auch richtig und wichtig, das Abgeordnete nur ihrem Gewissen unterstellt sind. Natürlich wird trotzdem enormer Druck auf die "Abweichler" ausgeübt.
Sven am 18.06.2010 um 08:04 Uhr
PermalinkDazu passend gibt es gerade eine Petition:
Petition: Deutscher Bundestag - Verbot von Probeabstimmungen und Fraktionszwang vom 31.05.2010
https://epetitionen.bundestag.de/index.php?action=petition;sa=details;pe...
Maja am 21.06.2010 um 19:33 Uhr
PermalinkFrage: Wird bei der Wahl des Bundespräsidenten auch vorher "geprobt"? Ich habe gelesen, dass die Parteien einige Mandate an öffentlich bekannte Persönlichkeiten (Journalisten, Prominente) abtreten möchten, die dann auch bei der Wahl zugelassen werden.
Uta am 22.06.2010 um 13:43 Uhr
PermalinkIrgendwie hab ich gedacht, es gäbe kein Imperatives Mandat für Parlamentsabgeordnete und Mitglieder der Bundesversammlung.
Thomas Bauer am 22.06.2010 um 14:46 Uhr
PermalinkHerr Gauweiler verdient großen Respekt! Dass er eine Ausnahme bildet, ist ein ekelerregender Skandal und zeigt, wie sich unser demokratisches System augenscheinlich verrant hat. Wenn es tatsächlich nur noch darauf hinaus liefe, dass wir 5 Meinungen im Bundestag haben, dann könnten wir uns ja die restlichen Abgeordneten sparen...
Angelika am 22.06.2010 um 16:10 Uhr
PermalinkInnerhalb der CDU gehören Abweichler der Fraktionslinie zum EDEKA-Club. Edeka steht dabei für das -Ende der Karriere-, also Streichung von der Liste zur nächsten Wahl. Diese Aussage besitze ich schwarz auf weiß und ich erhielt sie in einem Brief von einem Bundestagsabgeordneten nach der Zustimmung zum Milliardentransfer nach Griechenland. Es zeigt auch, wie man über die Arbeit eines Abgeordneten denkt - also Karriere nennt man das! Auch wenn man ahnt, was in den Fraktionen so vor sich geht, wenn strittige Akte mit fast 99 % -JA-Stimmen durchgehen, macht es mich immer wieder wütend und traurig, bes. jetzt, wo mit den Milliardentransferen Deutschlands Reichtum und Zukunft verschleudert wird. Frau Merkel sollte doch aus den Erfahrungen in der DDR wissen, wohin so eine JA-Sager-Mentalität führt ....
Ulrich am 22.06.2010 um 16:35 Uhr
PermalinkDer angesprochene EDEKA-Club ist eine Folge fehlender Vorwahlen und davon, daß nur die Hälfte der MdB tatsächlich gewählt werden. Die andere Hälfte wird ohne Bürgerwahl durch die Partei bestimmt (Listenplätze).
So kommt es beispielsweise auf europäischer Ebene, wo es ein reines Verhältniswahlrecht gibt, dazu, daß ein bekannter Politiker, der beim Sitzungsgeldbetrug ertappt wurde, dennoch nicht abgewählt werden kann. Er steht auf Platz 1 seiner Parteiliste. Diese Partei müßte also
So sitzen also im EurP und im Bundestag Abgeordnete, die nciht abgewählt werden können.
Ein Verhältniswahlrecht verhindert die Verantwortung eines Politiker gegenüber seinen Wählern. Und der Bundestag wird zur Hälfte per Verhältniswahlrecht gewählt.
Vorwahlen oder ein modifiziertes Verhältniswahlrecht nach Vorbild einiger Bundesländer (kumulieren, panaschieren) würden EDEKA-Clubs ausschließen und die Verantwortung der Politiker erhöhen. Deshalb wird es aber so etwas auch nicht geben.
Angelika am 23.06.2010 um 11:31 Uhr
PermalinkDas Wahlrecht muss geändert werden ! Die Wahlbeteiligung der Bürger würde dadurch wieder ansteigen. Leider sind nun schon so viele Bundestagsabgeordnete per Liste im Bundestag, dass es kaum zu einem Umbruch kommen wird. Trotzdem denke ich, nicht aufgeben und vielleicht regt eine Petition an den Bundestag die Damen und Herren Abgeordneten etwas auf bzw. so viele Bürger unterschreiben diese, dass dieser Mißstand an die Tagesordnung kommt.
Wollburg am 30.06.2010 um 18:55 Uhr
PermalinkNamentliche Abstimmungen sind ein Synonym für Fraktionszwang.
Die freie Meinungsbildung erfordert freie und somit geheime Wahlen.
Lukas am 30.06.2010 um 22:12 Uhr
PermalinkDas ist die direkte Aushebelung der Gewissensfreiheit-und eindeutig gegen die Regeln. Demokratie? So nicht!
Karl Ulrich Müller am 30.06.2010 um 23:46 Uhr
PermalinkDass es Fraktionszwang faktisch gibt, zeigt sich immer dann, wenn Franktionssprecher (zuletzt bei der gerade stattgefundenen Bundespräsidentenwahl) großspurig sagen:"Wir haben die Abstimmung frei gegeben." Wer logisch denken kann, muss daraus im Umkehrschluss ableiten, dass Abstimmungen gewöhnlich nicht frei sind; denn wäre sie frei, brauchte man sie nicht ausdrücklich freizugeben. Freie Abstimmungen würde es letztlich nur dann geben, wenn sie grundsätzlich geheim wären, was mit Wahlautomaten praktisch umsetzbar wäre. Aber das würde dann die Macht der Führungsriegen erheblich einschränken, und darum wird es keine Änderungen geben.
Und wenn Fraktionsgeschäftsführer treuherzig vesichern, dass abweichendes Stimmverhalten keinerlei Sanktionen nach sich ziehen würden, dann kann man ihnen das einfach nicht glauben. Bekanntestes Beispiel aus jüngerer Zeit ist doch Münteferings Drohung an Listenabgeordnete, dass sie bei abweichender Haltung ihres Mandares verlustig gehen würden; denn schließlich verdankten sie dieses Mandat ja ausschließlich ihrer Partei (was ja sogar stimmt).
Lindworm am 01.07.2010 um 16:04 Uhr
Permalink@Karl Ulrich Meier
"Freie Abstimmungen würde es letztlich nur dann geben, wenn sie grundsätzlich geheim wären, was mit Wahlautomaten praktisch umsetzbar wäre."
Mit der Black-Box Wahlautomat wäre eine Abstimmung eben nicht frei und noch viel leichter manipulierbar.
Sasha Arnold am 01.07.2010 um 16:27 Uhr
PermalinkWenn die Wahl zum Bundespräsidenten geheim gewählt wird. Warum müssen sich jetzt die Abgeordneten sich jetzt Öffentlich schriftlich erklären? Die Gewissensfreiheit ist dadurch nicht frei, sondern eingesperrt.
VG Sasha Arnold
Jens am 01.07.2010 um 16:51 Uhr
PermalinkEs ist schon beschämend, wenn freie und geheime Wahlen gefordert werden müssen!
War da nicht mal etwas in der Vergangenheit?
Sollte dafür nicht auf die Straße gegangen werden?
Wie kann es sein, dass über solche "Abweichler" überhaupt diskutiert werden muss.
Im Grundgesetz wird das Wort "Fraktionszwang" nicht erwähnt. Mir ist auch nicht bekannt, dass es in irgend einer Länderverfassung oder in irgendwelchen Wahlgesetzen überhaupt erwähnt wird!
Eine der wichtigsten Grundlagen unserer Demokratie sollte die viel gerühmte Meinungsfreiheit, auch und gerade auf Parlamentsebene, sein!
Jeder Abgeordneter ist nur seinem Gewissen unterworfen! Schwierig wird es nur, wenn er kein Gewissen hat und nur irgendwelchen Fraktionen oder Lobbyisten hörig ist. Leider haben die vergangenen Tage und Wochen gezeigt, dass dies sehr häufig der Fall ist!
Axel Wartburg am 01.07.2010 um 20:52 Uhr
PermalinkAls freier Kandidat der 17. Bundestgaswahl habe ich die Unfreiheit, also Grundgesetzwidrigkeit, eben dieser beim Staatsanwalt angezeigt. Die Anzeige wurde abgelehnt, obwohl ich schriftliche Rückjendeckung von Prof. Schachtschneider hatte.
Selbst der Verein "Mehr Demokratie e.V." teilte mir in einer Anfrage um Unterstützung zur Wahlanfechtung mit, dass sie, ich formuliere es mal wertfrei, "anderes" zu tun hätten.
Seit dem setze ich mich im Verein dafür ein, dass er intern das lebt, was extern fordert.
Ich resumiere:
1. Wahl zum Bundespräsidenten - nicht frei
2. Bundestagswahl - nicht frei
3. Mehr Demokratie e.v. - unterwandert
Wahrlich ein Grund auf die Straße zu gehen.
Liebe Grüße
Karl Ulrich Müller am 01.07.2010 um 23:06 Uhr
Permalink@Lindworm
"Mit der Black-Box Wahlautomat wäre eine Abstimmung eben nicht frei und noch viel leichter manipulierbar."
Das ist leider nicht nachvollziehbar. Was ist denn daran unfrei, wenn ein Abgeordneter - natürlich unsichtbar für Andere - ein Knöpfchen drückt? Manipulation lässt sich bei einem solchen System durchaus ausschließen - zumindest genauso sicher, wie das Manipulieren von Stimmkärtchen. Jedenfalls ist wohl jede technische Manipulation kleiner, als die derzeitige Manipulation der Gewissensfreiheit.
Weiterhin wäre ein wichtiger Schritt, Gesetzpakete, wie zuletzt das sogenannte Waschtumsbeschleunigungsgesetz, zu verbieten. Jedes Gesetz sollte einzeln zur Abstimmung gestellt werden müssen. Mein Abgeordneter hat mir frank und frei mitgeteilt, er sei gegen das Umsatzsteuergeschenk an die Hoteliers gewesen, aber im Gesetz seien ja noch weitere Dinge geregelt worden, die er für wichtig hielt. Darum hat er zugestimmt, obwohl er dagegen war.
Chris am 02.07.2010 um 09:51 Uhr
PermalinkWenn die Wahlen geheim wären, wäre niemandem geholfen. Dann würde der Zwang weiterhin wie bisher bestehen, aber die Bürger hätten keinerlei Informationen mehr darüber, wie "ihr" Abgeordneter abstimmt.
Damit würde man
a) jegliche Transparenz verhindern.
b) nichts am Fraktionszwang ändern - das eigentliche Problem ist doch, dass die Abgeordneten sich zwingen lassen! Es ist der geringste Teil, der scheinbar damit ein Problem hat.
c) Manipulation Tür und Tor öffnen. keine Transparenz = keine Kontrolle.
Nicht an den Symptonen rumdoktorn, sondern die grundlegenden Probleme suchen!
Wolfgang am 02.07.2010 um 18:01 Uhr
PermalinkDarf ich an die gescheiterte Wahl von Fr. Ypsilanti zur hessischen Ministerpräsidentin erinnern. Die 4 offen bekennenden Abweichler wurden mit Parteiausschlussverfahren überzogen. Hr. Walter, einer der Abweichler, darf über Jahre kein wichtiges Parteiamt bekleiden.
Noch 2 Besonderheiten:
Bei der Ypsilanti-Wahl, die nach der Veröffentlichung der 4 Abweichler nicht stattfand, wollte die CDU-Fraktion die Geschlossenheit überwachen, indem die gesamte Fraktion einfach nicht zur Urne geht. Die SPD überlegte sich im Gegenzug, dass die Abgeordneten ihren Wahlzettel mit dem Handy aufnehmen sollten, um später den Nachweis führen zu können, dass sie fraktionskonform gewählt haben.
So viel zu freien und geheimen Wahlen in Deutschland.
Wolfgang am 02.07.2010 um 18:19 Uhr
PermalinkVielleicht darf ich auch an die Vertrauensfrage von Kanzler Schröder im Zusammenhang mit dem Afghanistaneinsatz im Jahr 2001 erinnern.
SPD und Grüne hatten viele Abweichler bezüglich des Afghanistan-Einsatzes. CDU und FDP waren geschlossen für den Einsatz. Schröder hätte einen großen Teil des Bundestages hinter sich gehabt. Aber er wollte nicht "zu Gnaden" der Opposition regieren.
So verband er die Sachfrage mit der Vertrauensfrage mit dem Ergebnis, dass die SPD- und Grünen-Abgeordneten, die gegen den Einsatz waren, bis auf 4 grüne Abweichler dafür stimmten und dass die CDU- und FDP-Abgeordneten, die eigentlich für den Einsatz waren, geschlossen dagegen stimmten.
Dieses Vorgehen ist gemäß Artikel 81 Absatz 1 des Grundgesetzes erlaubt.
Auch so kann man die geschlossene Abstimmung der Fraktion erzwingen.
Bernd Koch am 04.07.2010 um 20:59 Uhr
PermalinkVeränderungen im politischen System bedürfen des langen Bohrens von dicken Brettern. Das ist im Prinzip nicht verkehrt, denn Politik ist keine Modenschau. Ich möchte aber alle Mitleser- und Mitleserinnen herzlich auffordern, an den geeigneten Stellen im System Druck aufzubauen, damit wir Bürger entscheidenden Einfluss auf die Listenaufstellung der Parteien bekommen. Die kleinen Parteien werden sich gewiss einigermaßen kooperativ verhalten, wenn die Alternative in der Einführung des reinen Mehrheitswahlrechts besteht. Ich stelle mir primaries nach amerikanischem Vorbild vor, bei denen die registrierten Anhänger einer vorher zu benennden Partei die vorgelegte Liste nach Belieben durch Kumulieren und Panaschieren umgestalten können. Ulla Schmidt, die uns noch übel im Magen liegt, wäre beispielsweise mit Sicherheit aus der SPD-Liste für NRW rausgeflogen selbst nachdem die SPD die Unverfrorenheit besessen hat, sie überhaupt noch aufzustellen. Ihren Wahlkreis hat sie ja bereits verloren.
Christian am 07.07.2010 um 10:54 Uhr
PermalinkLiebe Leute,
das wird hier ein bisschen sehr Stammtischniveau. Ich denke, die Sinnhaftigkeit von Fraktionen will niemand in Frage stellen. Ihre Aufgabe besteht auch darin, Verlässlichkeit zu erzeugen. Die Abgeordneten einer Fraktion sollen zunächst in dieser für ihre Überzeugungen streiten und diskutieren (das könnten übrigens auch die Medien ruhig mal akzeptieren und nicht sofort von Uneinigkeit, Zwist, etc. schreiben). Nach diesem Meinungsbildungsprozess wird abgestimmt, wie die Fraktion denn nun zu einer Sachfrage steht. Und hier gibt es (das hat die Vergangenheit gezeigt) deutliche Grenzen des Einflusses der Fraktionsführung; in jeder Fraktion gibt/gab es bereits Punkte die von der Fraktionsführung zwar gewünscht, aber bei den Abgeordneten einfach nicht mehrheitsfähig waren. Kommt es aber zu einem Abstimmungsergebnis in einer Sachfrage und ein Abgeordneter kann aus Gewissensgründen die Entscheidung seiner Fraktion im Plenum nicht mittragen, dann ist es das mindeste, dass dies vorab angekündigt wird. Dazu bedarf es m.E. keiner "Regeln", das gebietet der Anstand. Zwingen kann einen Abgeordneten ohnehin niemand, denn es sollte ohnehin nicht das Ziel eines Abgeordneten sein, möglichst lange im Bundestag zu sitzen. Das ergibt sich oder ergibt sich nicht und beide Varianten sind vollkommen in Ordnung, so werden auch die meisten Abgeordneten denken - denn jeder, der sich einmal selbst einer Wahl gestellt hat, weiß, dass man eine Wahl verlieren kann.
Ein Punkt noch: Gewissen ist immer ein großes Wort. Aber ob die Frage eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Hotelübernachtungen tatsächlich das Gewissen strapaziert? Meins jedenfalls nicht. Ich habe da zwar meine Vorstellung, aber wenn ich mich in einer Fraktion mit dieser nicht durchsetzen könnte und meine Argumente somit zu schwach wären, dann könnte ich mich da der Fraktionsmeinung anschließen. Denn ohne Fraktionen und (möglichst) geschlossene Abstimmungen im Plenum, sehe ich unser sehr gutes parlamentarisches System gefährdet. Meine Meinung.
carlo di fabio am 23.08.2010 um 19:20 Uhr
Permalinkprobeabstimmungen und fraktionszwang gab's auch bei der wahl von wulff zum BuPräs.
dies und andere wahlfehler/verfassungsverstöße mache ich geltend in der verfassungsbeschwerde 2 BvR 1598/10.
wer zu diesem thema etwas substantielles beitragen kann, wendet sich bitte an mich.
danke!
carlo.difabio@yahoo.de
Albrecht am 13.10.2011 um 22:35 Uhr
PermalinkDiejenigen, die sich über Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin aufregen, haben sicherlich Recht damit. Und das sog. imperative Mandat, das einige eher linke Politiker (die teilweise von der Räterepublik träumen, bei der dieses Mandat systemtypisch ist) vertreten, ist sicherlich ebenso nicht verfassungskonform!
Trotzdem muss man folgendes bedenken: vermutlich werden über 90 % der Bundestagsbeschlüsse einstimmig oder mit über 90 % Zustimmung beschlossen. Nur bei wenigen Abstimmungen spielt die knappe Kampfabstimmung überhaupt eine Rolle!
Ich habe in kommunalen Parlamenten die Erfahrungen gemacht, dass bei vielen Abstimmungen für mich die Vor- und Nachteile so um 30-40% bzw. um 60-70% schwanken, manchmal sogar noch knapper. Im Zweifel verlässt man sich dann eher auf die befreundeten Fachleute aus der eigenen Fraktion, man unterwirft sich freiwillig der Fraktionsdisziplin. Umgekehrt hätte ich mich dann auch nicht gefreut, wenn meine Fraktion meine Vorschläge mehrheitlich beschlossen hat und dann einige Fraktionskolleg(inn)en mit den Gegenparteien dagegen stimmen und damit verhindern!
Wozu es führt, wenn eine Fraktion keine Fraktionsdisziplin hat wie eine "freie" Liste in meiner früheren Heimat-Gemeinde, habe ich erlebt: von 3 Gemeindevertretern stimmt einer für einen Vorschlag, einer dagegen + einer enthält sich. Das war für die stärkste Partei sehr bequem, so konnte sie alles durchbekommen, was sie wollte!
Eine solche Gruppe bewirkt so viel, wie wenn sie gar nicht da wäre! Wer sollte so etwas wollen?
Also: im Prinzip sollte man die Auswüchse bekämpfen, aber zu glauben, solches Verhalten sei grundsätzlich verhinderbar, ist eine Illusion (Abgeordnete sind auch Menschen!).