Freiwilligkeit mit Druck und Drohungen (Update)

Abweichler haben in der SPD nichts zu befürchten, versichert deren parlamentarischer Geschäftsführer. Schlagzeilen wie „Struck will Reform-Gegner bestrafen“ oder „Müntefering droht den Abweichlern“ sprechen allerdings eine ganz andere Sprache.

von Martin Reyher, 10.08.2010

Mit der Disziplin ist es so eine Sache: Gut, wenn sich alle in der Gruppe daran halten. Wenn nicht, braucht es manchmal ein wenig Druck, um die Truppe wieder auf Linie zu bringen...

Druck oder gar Zwang - genau das gibt es in der SPD nicht, versichert deren Parlamentarischer Geschäftsführer, Thomas Oppermann, in einem Brief an abgeordnetenwatch.de, der uns gestern erreichte. Mitte Juni hatten wir alle fünf Parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktionen um Stellungnahme zum internen Umgang mit Abweichlern gebeten, nachdem der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler auf abgeordnetenwatch.de eine aufschlussreiche Antwort zu diesem Thema gegeben hatte. Laut Gauweiler müssen sich in seiner Fraktion Abweichler vor wichtigen Abstimmungen schriftlich gegenüber der Fraktionsführung erklären. Ist so etwas auch in anderen Fraktionen üblich?

Oppermann schreibt in seinem eineinhalb Seiten langen Brief, dass es in der Geschäftsordnung der SPD-Bundestagsfraktion keine Regelung zum Stimmverhalten gebe. Es werde jedoch erwartet, „dass Mitglieder der Fraktion ein solches abweichendes Stimmverhalten der Fraktion vorher mitteilen.“ Aber, so Oppermann, weiter:

Sanktionen sind nicht vorgesehen. Insbesondere kann die Fraktion eine Nichtberücksichtigung bei der Listenaufstellung gar nicht androhen, weil die Listenaufstellung in der Autonomie der Landesverbände liegt. Jeder Abgeordnete ist nur seinem Gewissen verpflichtet. Ein Fraktionszwang, also der Zwang in einer bestimmten Art und Weise abzustimmen, ist daher in der SPD-Bundestagsfraktion zu Recht ausgeschlossen. Richtigerweise kann und muss es aber eine Fraktionsdisziplin geben, d.h. der freiwillige Entschluss der Abgeordneten einen mehrheitlich gefällten Beschluss der Fraktion im Bundestag zu unterstützen.

Tatsächlich? Recherchiert man ein wenig, stößt man auf eine Reihe von Beispielen, wo aufmüpfige SPD-Abgeordnete unter Druck gesetzt und ihnen Sanktionen angedroht wurden:

Beispiel Mazedonien-Einsatz: „Müntefering droht den Abweichlern“, SPIEGEL ONLINE am 2.9.2001:

Nach der Mazedonien-Abstimmung im Bundestag hat SPD-Generalsekretär Müntefering seine Drohungen an die Adresse der Abweichler in seiner Fraktion verstärkt. Diese könnten bei der Kandidatenaufstellung für die kommende Wahl durchaus abgestraft werden. "Über die Listenaufstellung für die Bundestagswahl entscheiden die Landesdelegiertenkonferenzen", sagte Müntefering der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". "Aber den Delegierten ist natürlich das Verhalten der einzelnen Abgeordneten präsent. Und: dass auch zukünftig knappe Regierungsmehrheiten gesichert werden müssen." Das Abstimmungsverhalten der Gegner des Mazedonien-Einsatzes könne die Partei nicht hinnehmen. "Wir werden darüber mit aller Deutlichkeit in den Gremien sprechen", sagte Müntefering. "Jeder, der sich um ein Mandat als Bundestagsabgeordneter bemüht, muss sich darüber klar werden, in welche Situationen er kommen kann. Jeder muss sich darüber klar sein, dass es die SPD ist, weswegen er gewählt wird."

Beispiel Gesundheitsreform 2003: "Müntefering will Abweichler zur Verantwortung ziehen", sueddeutsche.de am 27.9.2003:

Es sei "feige und klein kariert, dass manche sich so vom Acker machen", sagte Müntefering in der ARD. Der SPD-Fraktionschef kündigte an, dass der Parteivorstand die sechs Neinsager zur Rechenschaft ziehen wird. Laut Focus wurden die sechs Abgeordneten, die am Freitag gegen die Gesundheitsreform gestimmt hatten, bereits in der anschließenden Fraktionssitzung unter dem Applaus zahlreicher SPD-Parlamentarier aufgefordert, ihre Mandate zurückzugeben.

Beispiel Gesundheitsreform 2007: „Struck will Reform-Gegner bestrafen“, STERN.de am 1.2.2007:

SPD-Fraktionschef Peter Struck erwägt einer Zeitung zufolge Disziplinarmaßnahmen gegen parteiinterne Kritiker der Gesundheitsreform. Dazu gehörten etwa die Abberufung der Abgeordneten Karl Lauterbach und Wolfgang Wodarg aus dem Gesundheitsausschuss, berichtet "Die Welt". "Eine Abberufung ist noch offen", sagte Strucks Sprecher Norbert Bicher dem Blatt. Struck werde dies gut überlegen und "nichts über das Knie brechen".

(Auf abgeordnetenwatch.de bekräftigte Wodarg damals seinen Vorwurf des "Belügen, Täuschen und Austricksen der Parlamentarier" durch die Fraktionsführung. Seinem Fraktionsvorsitzenden Struck warf er in einer anderen Antwort "populistische Verantwortungslosigkeit" vor. Trotz des Drucks stimmte Wodarg am Ende zusammen mit 19 SPD- und 23 Unions-Abgeordneten gegen die Gesundheitsreform.)

Beispiel Hartz: "Drohungen und Beschimpfungen nutzten bisher nichts", DER SPIEGEL, 6.10.2003:

Für den Abweichler Veit könnte die allgemeine Empörung konkrete Folgen haben: 12 der 17 Mitglieder der Arbeitsgruppe Inneres baten ihren Sprecher Dieter Wiefelspütz, den forschen Hessen als Stellvertreter abzulösen. Jetzt, vor der Abstimmung über die Hartz-Reformen, werden die Quertreiber wieder bearbeitet. Bei Horst Schmidbauer in Nürnberg klingelt das Handy ohne Unterlass. Es sind Kollegen, die ihn beschwören, seinen Widerstand aufzugeben.

Diese Beispiele betreffen die SPD, dürften so oder in ähnlicher Form aber auch in anderen Fraktionen nicht unbekannt sein. Oppermann hat sicherlich recht damit, dass sich „jede Fraktion auf ihre Abgeordneten verlassen können muss“. Die Behauptung jedoch, gegenüber Abweichlern gebe es weder Druck noch Sanktionen, zumal sich Abgeordnete ja vollkommen freiwillig einer Fraktionsdisziplin unterwerfen, gehört ins Reich der Legenden. Da spielt es auch keine Rolle, ob die Dissidenten am Ende tatsächlich ihres Amtes enthoben oder auf der Landesliste nach unten durchgereicht werden.

Nachtrag 6.5.2015:

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