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Frage von Manfred B. •

Frage an Rolf Stöckel von Manfred B. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrter Herr Stöckel,

vor kurzem diskutierten Sie mit Frau Wiest, der Petentin für ein Bedingungsloses Grundeinkommen, eben über dieses.
Sie sprechen dabei u.a. von Utopie (auch der Fall der Mauer war für SPD einst Utopie) und nicht finanzierbar (das Gegenteil ist längst erwiesen).
Sie sprechen sich weiterhin für eine bedarfsorientierte Grundsicherung aus.
www.bundestag.de/blickpunkt/101_Themen/0902/0902020.htm

"Bedarfsorientiert" hört sich harmlos aus, dahinter stehen aber nichts anderes als Zwänge (z.B. 1EuroJob und der Zwang prekäre Jobs anzunehmen) und Ungerechtigkeiten (z.B. Verbrauch von angespartem Geld fürs Alter, bis auf ein kleines
Schonvermögen).
Im Hamburger Grundsatzprogramm von 2007 hat sich die SPD für den vorsorgenden Sozialstaat ausgesprochen. Ziel soll unter anderem sein, dass sich "die Menschen ihr eigenes Leben frei und selbstbestimmt gestalten können".

Ich frage Sie:
Wie passt dieses Ziel eines frei und selbstbestimmten Lebens zu den von Ihnen befürworteten Zwängen von Hartz IV?

Warum glauben Sie, sind sich die Parteien die im Deutschen Bundestag vertreten sind so einig, dass ein BGE nicht eingeführt werden kann? Ist diese gemeinsame Einigkeit nicht erstaunlich?
Haben Sie Angst, wie ein von Zwängen befreites Volk regiert werden soll?
Und warum beauftragen sie in der Frage nach einem BGE (wie bei vielen anderen) keine Expertenkommission?

Was sagen Sie dazu, dass das spanische Parlament gerade einen Ausschuß berufen hat, der das BGE diskutieren soll?
www.eurotopics.net/de/presseschau/archiv/aehnliche/archiv_article/ARTICLE49980-Grundeinkommen-in-Spanien-waere-sinnvoll

Mit freundlichen Grüßen
Manfred Burger

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Burger,

Solidarität, die von Steuer-und Beitragszahlern gegenüber Bedürftigen geübt wird, ist natürlich keine Einbahnstrasse und ich halte ein bedarfsunabhängiges Grundeinkommen, wie viele im DGB, in der SPD und anderen Parteien nun mal für nichtfinanzierbares, liberales Konzept, dass zur Individualisierung von Lebensrisiken und zum Sozialabbau führen wird. Es hat dazu zahlreiche Expertenrunden gegeben und niemand hat bisher ein schlüssiges, verteilungsgerechtes Konzept auf den Tisch legen können. Sie auch nicht. Im Anhang sende ich nochmal meine Thesen dazu.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Rolf Stöckel

Anhang:
Die Idee ist so alt wie auf den ersten Blick sympathisch: Es handelt sich im Grunde um eine soziale Utopie des Mittelalters (z.B.Thomas Morus „Utopia“ 1516) und des 18.,19. sowie 20. Jahrhunderts (Sozialutopisten). Aktuell gibt es wieder eine Renaissance dieser Idee durch die liberalen und konservativen „Bürgergeld-Konzepte“ (Götz Werner, FDP, Die Grünen, MP Althaus, ATTAC, Teilen der Autonomen und der Partei „Linke“). So findet das Thema auch Eingang in Foren und Publikationen der Wissenschaft und Gewerkschaften. Aktuell gibt es eine Petition für das BGE mit 50 000 Unterstützern an den Deutschen Bundestag, die auch mediales Aufsehen erregt hat.

Die Etiketten heißen Bürgergeld, Existenzgeld, bedingungsloses Grundeinkommen und Negativsteuer. Im Diskurs werden die Instrumente und Kriterien der verschiedenen Modelle meist vermengt. Ein valides, nachhaltiges Finanzierungskonzept gibt keines der Modelle her. Die wesentlichen gemeinsamen Merkmale sind:

- Ein bedarfsunabhängiges Grundeinkommen wird vom Staat aus den Steuern der lohnabhängig Beschäftigten, Selbstständigen und Vermögenden für alle Einwohner garantiert. Und zwar so, dass ein menschenwürdiges Existenzminimum gesichert („armutsfest“) und damit alle vom Zwang der Lohnarbeit befreit werden und sich freiwilliger Arbeit und gesellschaftlichem Engagement widmen können.

- Wer sich allerdings zusätzliches leisten will, muss zusätzliches leisten, also arbeiten. Die Gegenfinanzierung wird, neben der Einkommensteuer ab einem bestimmten Freibetrag, durch den Ersatz der bisher steuerfinanzierten Sozialhilfe und Grundsicherungen, der Versorgungsleistungen des Staates und der gesetzlichen Sozialversicherungen, wie der Rente (mit Ausnahme der Krankenversicherung, die zu einer Bürgerversicherung wird) plus zusätzlicher Vermögens- oder anderer Steuern geleistet.

Zu unterscheiden sind utopische, sozial-egalitäre und emanzipatorische Motive gegen die Zumutbarkeits- und Kontrollregeln der bedarfsabhängigen Grundsicherungen einerseits und marktliberale und konservative Strategien, die sich gegen die bisherigen Sozialsysteme hin zu einer Privatisierung der Risiken, gegen paritätische Finanzierung, solidarische Umverteilung und kollektive Interessenvertretung richten.

Die Idee ist auch attraktiv, weil sich viele durch die Sozialbürokratie bedrängt fühlen, bzw. keine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt für sich sehen („Hartz IV-Debatte“). Viele befürchten den sozialen Abstieg. Nicht nur soziale Utopien, wie die von der „Befreiung von entfremdeter Lohnarbeit“ auch die Kritik am herrschenden Kapitalismus und die defizitäre, oft restriktive und zu wenig aktivierende Praxis der bestehenden Sozialgesetzgebung befördern diesen Diskurs.

- Stichworte sind Globalisierung, technischer Fortschritt und Übergänge von der tayloristischen Produktionsweise der nationalen Industriegesellschaften zu einer internationalen Arbeitsteilung, Automatisierung und Gesellschaft ohne Arbeit.

- Der Deutsche Sozialstaat ist eng an homogene und männliche Erwerbsbiografien der alten Industriegesellschaft sowie auf Vollzeitbeschäftigung orientiert.

- Die demografische Entwicklung, der ökonomische und soziale Strukturwandel erfordert Veränderungen in den bestehenden sozialstaatlichen Systemen des konservativen Wohlfahrtsstaates Deutschland, der zudem die Sondersituation der Deutschen Einheit und aktuell die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen hat

Kritische Fragen:

- Geht die Arbeit wirklich aus? Z.B. in Pflege, Gesundheit, Bildung, Kultur? Was ist mit dem künftigen Nachwuchsmangel auf dem Arbeitsmarkt bei zurück gehenden Bevölkerungszahlen?

- Welche Auswirkungen hätte das Bürgergeld auf die Tarif- und Preisentwicklung ( Stichworte: Kombilöhne, Frauenerwerbstätigkeit) und auf die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften?

- Was ist mit einfachen Dienstleistungen, werden die dann zu geringen Löhnen bis € 400 noch gemacht und von wem und wird Schwarzarbeit gefördert oder zurückgedrängt (Opaschowski spricht von 17% Spielverderbern)?

- Welche Anreize gibt ein „Bürgergeld“ zur Qualifizierung, produktiven oder gesellschaftlichen Arbeit z.B. für über 3 Millionen überschuldete Haushalte und die, die faktisch an der Pfändungsgrenze leben und für Schulabgänger?

- Welche Wirkungen gibt es international, im Europäischen Binnenmarkt (Freizügigkeit, Vorschlag Althaus: Geltung Ausländer erst nach 2 Jahren) und in der internationalen Konkurrenz als Hochlohn- und Einwanderungsland?

- Wenn jeder das Grundeinkommen unabhängig von Arbeitseinkommen und Privatvermögen bekommt, wie sind die Leistungsanreize, wird die Verteilungs- bzw. Belastungsgerechtigkeit sichergestellt?

- Sind die bisher vorgeschlagenen Sätze wirklich armutsfest ( 560 € bei Opaschowski – 600 € Althaus, 800 € PDS, 1000 Euro bei Frau Wiest)? Wie wird anderen Armutsfaktoren (Teilhabe, Zugänge, öffentliche Infrastruktur) begegnet? Wie werden individuelle Sonderbedarfe bei einer Totalpauschalierung gedeckt?

- Welche Wirkung hat ein bedingungsloses Grundeinkommen auf die staatliche Daseinsvorsorge, auf Präventionsleistungen, gleichen Zugang zu Bildungschancen von Anfang an, auf besondere persönliche Hilfen, z.B. für Behinderte, und Sachleistungen aus den Sozialsystemen und deren politische Legitimation? Würden bisherige Benachteiligungen nicht zementiert statt mit gezielten Hilfen abgebaut?

- Bisher ist die Basis des Sozialstaates die Arbeitsgesellschaft, in der die Stärkeren die Schwächeren solidarisch über Steuern und Beiträge mit finanzieren. Wie ist die Bereitschaft der Leistungsträger, der Vermögenden und Besserverdienenden höhere Steuern zu zahlen und nicht ins Ausland abzuwandern? Was ist mit dem Äquivalenzprinzip und dem Generatiponenvertrag in den Sozialversicherungen (z.B. bei der gesetzlichen Rente, die dann abgeschafft wird) und gibt es nicht zusätzliche Bürokratie für Einzelfallhilfen, die doch wieder nötig werden?

- Was passiert in einer Transformationsphase mit höheren Rechtsansprüchen aus den bisherigen Systemen? Gibt es z.B. mehr Synergieeffekte als zusätzlichen Finanzbedarf für Übergangsregelungen und weniger oder mehr Bürokratie?

Es ist daher notwendig, näher hinzusehen, was hinter den einzelnen Modellen und Finanzierungsvorschlägen steckt. Der volkswirtschaftliche Wirkungszusammenhang sowie alle Gerechtigkeits- und Verteilungsaspekte sind zu prüfen.

- Bei allen Modellen bleibt eine Deckungslücke bzw. die Finanzierung unklar. Kosten für Sachleistungen und finanzielle Transfers werden kaum unterschieden.Effekte von neuen Steuern bzw. Steuererhöhungen werden überschätzt.

- Das Gesellschaftsmodell der Arbeitsgesellschaft wird abgelöst.

- Die Umsetzung könnte nur international erfolgen.

- Durch eine staatliche Geldleistung an alle werden weder Benachteiligungen abgebaut noch mehr Teilhabe organisiert. Es besteht eher die Gefahr dass das BGE wie eine „Stilllegungsprämie“ wirkt und sozialen Fortschritt behindert.

- Was als vom Arbeitszwang befreiende und Bürokratie abbauende Idee daher kommt, ist m.E. eher ein liberal-konservatives Programm zum Abbau von Rechtsansprüchen, Sozialstaatlichkeit und kollektiver Interessenvertretung.

Die Weiterentwicklung der Grundsicherung für Bedürftige bzw. die Förderung gesellschaftlicher Arbeit und wie wir wieder Vollbeschäftigung organisieren können, ist m. E. die wichtigste Konsequenz aus dem Diskurs über das „Bürgergeld“.

Sozialdemokraten und Gewerkschaften streben Vollbeschäftigung der Erwerbsfähigen an und gehen absehbar vom Bestand der Arbeitsgesellschaft aus.

- Die Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten und Wirtschaft insgesamt trägt den individuellen und gesellschaftlichen Wohlstand. Hohes Sozialprodukt, hohe Löhne und Wirtschaftswachstum ist Grundlage gerechter Verteilung und armutsfester Sozialsysteme auf hohem Niveau. Bei längerer Lebenserwartung und höheren Ansprüchen an Aus- und Weiterbildung wird die Lebensarbeitzeit nicht verkürzt, sondern flexibler verlängert werden müssen. Der Bedarf an qualifizierten Fachkräften steigt aufgrund der demografischen Entwicklung.

- Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Wachstum und Produktivitätszuwächsen, faire Arbeits- und Marktbedingungen mit internationalen Regeln und der Ausbau demokratischer Mitbestimmung in Staat und Wirtschaft sind Grundsäulen unserer Vorstellungen von Demokratie und Sozialstaatlichkeit.

- Statt Totalumstellung auf private Versicherungen oder ein steuerfinanziertes bedarfsunabhängiges Grundeinkommen setzen wir auf die leistungs- und bedarfsgerechte, armutsfeste Weiterentwicklung der Systeme der steuerfinanzierten Grundsicherungen, der beitragsfinanzierten solidarischen Sozialversicherungen, die Förderung der privaten Vorsorge sowie die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne.

- Die solidarische Finanzierung der Grundsicherungen und das Gerechtigkeitsempfinden über das Lohnabstandsgebot erfordert den Erhalt der Prinzipien der Nachrangigkeit, der Mitwirkungspflichten und der Hilfe zur Selbsthilfe

- Die Sicherungssysteme müssen sukzessive und flexibel an den technischen, wirtschaftlichen, demographischen und sozialen Wandel angepasst werden.

- Die Kompatibilität der Sozialgesetzbücher , die Vereinfachung der Verwaltungspraxis und Vernetzung der Leistungserbringer müssen zu Bürokratieabbau sowie zielgenaueren, auch niedrigschwelligeren Hilfen führen. Ein guter Ansatz dazu ist das "Persönliche Budget" im SGB IX.

- Dazu gehört auch der Paradigmenwechsel vom konservativen, nachsorgenden, paternalistischen und ausgrenzenden Sozialstaat zu einem modernen, vorbeugenden Sozialstaat, der die selbstbestimmte Entfaltung freier Individuen, das Gleichheitsgebot sowie die Teilhabe und Inklusion benachteiligter Gruppen in den Vordergrund stellt.

- Das Abschieben sozialer Probleme in stationäre Sondereinrichtungen außerhalb der Gesellschaft muss zugunsten menschenwürdigerer, bedarfsgerechterer, barrierefreier und wohnortnaher Angebotsnetze beendet werden. Dazu gehört die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements und freiwillige Dienste von Menschen für Menschen.

Ein philosophischer Gedanke zum Schluss:

Ein zum Leben ausreichendes, bedarfsunabhängiges Grundeinkommen für alle mag am Ende einer globalen Entwicklung des Kapitalismus, wenn dieser selbst die Produktivkräfte und seine eigenen Widersprüche ausreichend entwickelt hat und seine nationalen Grenzen und Unterschiede deshalb in toto sprengt, möglich sein. Dann werden alle morgens Fischer, nachmittags Künstler oder Faulenzer und abends Philosophen sein können. Aber erst dann! Vorher geht es nur auf Knochen anderer, meist ärmerer Teufel. Trotz Krisen und rasanter Entwicklung im Turbokapitalismus sind wir noch nicht ganz so weit. Ein Blick in die ärmeren Länder müsste für diese Erkenntnis genügen.

Wenn die Wohlstandsniveaus aller Gesellschaften angeglichen, die Menschen gleichbehandelt, gleichqualifiziert und emanzipiert sind, wenn rechts- wie sozialstaatliche Regeln international harmonisiert und durchgesetzt sind. Bis dahin werden wir uns wohl noch mit Zwischenschritten gedulden und weiter an dieser Entwicklung arbeiten müssen. Vorausgesetzt unsere Natur gibt das her und es herrscht überall Frieden. Dann kann der Staat auch absterben und die freie Assoziation der Freien, das Paradies beginnen. Hoffentlich wird das kein langweiliges „Schlaraffenland“. (Rolf Stöckel, 15. Mai 2009)