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Frage von Marcella B. •

Frage an Michel Brandt von Marcella B. bezüglich Europapolitik und Europäische Union

Sie haben die Migrationspolitik der EU neulich auf Twitter als Verbrechen bezeichnet (https://twitter.com/michel_brandt_/status/1385483082027913217). Können Sie etwas ausführen, wie Sie das meinen?

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Hallo Frau Bertazzo,

vielen Dank für Ihre Frage. Die Initiative UNITED hat recherchiert, dass seit 1993 mindestens 40.555 Menschen infolge der restriktiven Migrationspolitik der EU gestorben sind. Die Liste mit den Namen der Verstorbenen umfasst 69 eng bedruckte Seiten. Viel der Menschen sind im Mittelmeer ertrunken, in der Wüste verdurstet, beim Versuch der Überwindung von Stacheldrahtzäunen ihren Verletzungen erlegen, in Wäldern erfroren, nicht behandelten Krankheiten erlegen, sind verhungert, wurden ermordet. Während auf der einen Seite EU-Bürger*innen innerhalb und außerhalb des Schengen-Raums ein hohes Maß an Mobilität genießen, wird auf der anderen Seite durch eine rassistische und neoliberale Verwertungslogik selektiert, wer als nützlich betrachtet und in die EU hereingelassen wird und wer nicht. Genauso selektiv ist mittlerweile die Gewährung von Grundrechten. In den Flüchtlingslagern von den Kanarischen Inseln über Libyen bis Griechenland kann von universellen Menschenrechten nicht mehr die Rede sein. Der Zugang zu einem fairen Asylverfahren wird massiv erschwert und vielen Menschen so ihr Recht auf Schutz genommen. Deshalb halte ich die Politik der EU für ein Verbrechen, das unbedingt gestoppt werden muss.

Die EU betreibt mit ihrer Politik der Abschottung gegenüber geflüchteten Menschen eine Erosion von völkerrechtlichen Grundsätzen. Damit bringt sie nicht nur zehntausende Menschen in menschenunwürdige Lebensbedingungen, sie setzt auch die Grundlagen unseres Zusammenlebens aufs Spiel. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 zum Beispiel ist eine der Lehren aus dem deutschen Faschismus und wurde zum Schutz der im zweiten Weltkrieg vertriebenen und zur Flucht gezwungenen Menschen erlassen. Einige wesentliche Punkte der GFK werden durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten systematisch gebrochen – etwa Art. 33, das Verbot der Zurückweisung. Illegale Zurückweisungen, häufig Pushbacks genannt, sind längst fester Teil des Abschottungssystems: Aus Ungarn wurden seit 2016 mehr als 50.000 Menschen nach Serbien zurückgedrängt, aus Kroatien allein seit Mai 2019 mehr als 21.000 Menschen nach Bosnien-Herzegowina und aus Griechenland in die Türkei vergangenes Jahr allein an der Seegrenze mehr als 9.000 Menschen. Auch Art. 31 der GFK, welcher besagt, dass Flüchtlinge wegen der mangels legaler Fluchtwege notwendigerweise illegalen Einreise nicht bestraft werden dürfen, sehe ich systematisch verletzt. Die EU-Hotspots auf den griechischen Inseln zum Beispiel entwickeln sich immer weiter zu geschlossenen Freiluftgefängnissen. Das Lager bei Kara Tepe auf Lesbos darf laut dem vor Ort aktiven Dunya Collective je Familie von einer Person für maximal 3 Stunden die Woche verlassen werden. Das kommt einer Inhaftierung nahe und stellt einen unheimlichen Eingriff des Staates in die Rechte der Menschen dar.

Damit habe ich jetzt nur zwei Aspekte der EU-Migrationspolitik und zwei Brennpunkte von vielen an den Außengrenzen genannt. Mein Punkt aber dürfte klar geworden sein: Für eine solidarische, sozial gerechte und den Menschenrechten verpflichtete Migrationspolitik braucht es nicht nur graduelle Veränderungen und geringfügige Reformen, sondern einen grundsätzlichen Paradigmenwechseln. Deshalb trete ich im Parlament wie auf der Straße für Seenotrettung statt Frontex, Aufnahme statt Abschottung und für sichere, legale Fluchtwege ein.

Mit freundlichen Grüßen,

Michel Brandt