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Jörg-Otto Spiller
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Frage von Tilmann H. •

Frage an Jörg-Otto Spiller von Tilmann H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Spiller,

Aus meiner Sicht ist die Regierung handlungsunfähig, wie viele ihre Vorgänger. Deutschland verliert international an Wichtigkeit, aufgrund der Tatsache, dass während hier noch diskutiert werden muss, anderswo schon längst gehandelt wird. Meiner Meinung nach liegt dies am Verhältniswahlrecht.
Warum tritt niemand im Bundestag für die Einführung des Mehrheitswahlrechtes ein, um damit stabilere Regierungen zu gewährleisten?

MfG
T. Häußler

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Häußler,

da die Sitzverteilung im Bundestag durch die Prozentanteile der Parteien an den Zweitstimmen bestimmt wird (Verhältniswahlrecht) -so verstehe ich Ihre Sorge und Kritik - verfüge in aller Regel keine Fraktion allein über die Mehrheit, infolgedessen sei die Bundesregierung von Koalitionsvereinbarungen und -streitereien abhängig, werde manches nicht und vieles nicht schnell genug entschieden und im übrigen das internationale politische Gewicht Deutschlands geschmälert. Überwinden -so Ihre Vermutung -lasse sich eine solche Tendenz zu Handlungsunfähigkeit und Instabilität durch ein einfaches Mittel: die Einführung des Mehrheitswahlrechts, nach dem nur ins Parlament kommt, wer seinen Wahlkreis gewinnt.

Ihre Grundeinschätzung, der jetzigen Bundesregierung und "vielen ihrer Vorgängerinnen" wäre Handlungsunfähigkeit zu bescheinigen, teile ich nicht. Alles in allem, so finde ich, hat sich unsere demokratische Ordnung, die sich in bisher sechs Jahrzehnten Bundesrepublik entwickelt und gefestigt hat, voll bewährt. Einen vermeintlichen Zug zu instabilen Regierungen kann ich ebenfalls nicht erkennen.

Seit 1949 ist es nur einmal vorgekommen, dass eine Regierungskoalition während der Wahlperiode zerbrach: im Herbst 1982, als die FDP die sozialliberale Regierung verließ und Helmut Kohl durch ein konstruktives Misstrauensvotum zum Nachfolger von Helmut Schmidt gewählt wurde.

Die Vorschrift des Artikels 67 Grundgesetz -- der Kanzler kann nur durch Wahl eines Nachfolgers gestürzt werden (konstruktives Misstrauensvotum) -- ist, nebenbei bemerkt, ein wichtiges Element der Stabilität.

Dass ein Kanzler keinen Koalitionspartner brauchte, war ebenfalls bisher einmalig: In der Wahlperiode 1957 -- 1961 hatte die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag eine klare absolute Mehrheit. Konrad Adenauer nahm zwar trotzdem wieder Vertreter der konservativen Deutschen Partei in sein drittes Kabinett auf, aber angewiesen war er auf sie nicht, und 1960 traten sie in die CDU über. Herausragend stark war dieses dritte Kabinett Adenauer keineswegs. In der Außen- und Deutschlandpolitik endete Adenauers dritte Amtszeit katastrophal : mit der ohnmächtigen und ratlosen Hinnahme des Mauerbaus vom 13. August 1961 und der damit einhergehenden Vertiefung der deutschen Teilung.

Die einfache Rechnung absolute Mehrheit einer Fraktion gleich starke Regierung geht jedenfalls nicht auf und ebenso wenig die Gleichung langwieriger Entscheidungsprozeß gleich schlechte Entscheidung.

Aus all diesen Gründen ist seit langem unser geltendes Wahlrecht -- von Details abgesehen -- kein wirkliches Streitthema. Ernsthafte Bestrebungen, das Mehrheitswahlrecht einzuführen, gibt es im Bundestag nicht.

Außerhalb des Parlaments gab es dazu in letzter Zeit ein paar Wortmeldungen. Insbesondere fiel auf, dass sich im Frühjahr Altbundespräsident Professor Roman Herzog für ein Nachdenken über Wahlrechtsänderungen ausgesprochen hat, allerdings ohne selbst ein eindeutiges Votum abzugeben. Hintergrund ist der Umstand, dass im Bundestag und in mehreren Landtagen inzwischen fünf Fraktionen vorhanden sind und das gewohnte Verfahren Mehrheitsbildung durch Bündnis zwischen einer großen und einer kleinen Fraktion nicht mehr überall ausreicht.

Ich halte nichts von solchen Gedankenspielen. Selbstverständlich wäre es mir lieber, wenn es nicht nur die Alternative Große Koalition oder brüchige/unklare Mehrheitsverhältnisse gäbe. Doch um zu handlungsfähigen und politisch seriösen Mehrheiten zu gelangen, muss man um Wählerstimmen kämpfen. Ein Versuch, an nicht bündnisfähige Konkurrenten gegangene Stimmen durch Wahlrechtsänderungen politisch entwerten zu wollen, würde meines Erachtens zu Recht von der breiten Öffentlichkeit als unfaires Tricksen aufgefasst werden.

Ein Nachtrag sei noch gestattet. Die von manchen Theoretikern vertretene These, das Mehrheitswahlrecht führe tendenziell nicht allein zu einem Zweiparteiensystem, sondern darüber hinaus so gut wie sicher zu eindeutigen Mehrheitsverhältnissen, ist frommer Kinderglaube.

Wäre 2005 der gesamte Deutsche Bundestag so gewählt worden wie die in den 299 Wahlkreisen direkt gewählten Abgeordneten, also wie das britische Unterhaus nach dem relativen Mehrheitswahlrecht, könnte sich entweder die Bundesregierung nur auf eine allenfalls hauchdünne Mehrheit stützen, oder es gäbe keine Opposition.

CDU und CSU erhielten damals zusammen 150 Direktmandate, die SPD 145, die Partei "Die Linke" 3, Bündnis 90/Die Grünen 1. Ein direkt gewählter CDU-Abgeordneter ist inzwischen aus der Fraktion ausgeschieden, hat sein Mandat aber behalten.