Frage an Ingrid Nestle von Simon K. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrte Frau Nestle,
Im Rahmen meiner täglichen Arbeit als Sachbearbeiter in der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (6.Kap. SGB XII) ist mir schon in einigen Fällen aufgefallen, dass durch die Entkoppelung der Leistungen in einer Werkstatt für behinderte Menschen vom Einkommen und Vermögen des Leistungsberechtigten und seinen Angehörigen, besondere soziale Missstände entstehen.
So kann es z.B. vorkommen, dass ein Mensch, der die Anspruchsvorraussetzungen der §§136 SGB IX, 53,54 SGB XII und 41 SGB III erfüllt, dass ihm diese Leistungen gewährt werden, ohne dass seine Vermögenssituation angetastet wird oder er einen Kostenbeitrag aus seinem Einkommen leisten muss.
In der Praxis kommt es in seltener Regelmäßigkeit zu Fällen, in denen monatlich Miet- oder Zinseinahmen im Bereich von 7.000 € oder mehr dem Leistungsberechtigten zufließen, ohne dass dieser aus diesem beträchtlichen Einkommen einen Beitrag zu der relativ kostenintensiven Werkstattbetreuung (ca. 1.100€ pro Monat) leisten muss.
Ich finde diesen sehr starken Schutzgedanken des Menschen mit Behinderung vor allem vor dem Hintergrund der Inklusion nicht mehr zeitgemäß.
Ich habe mir im Rahmen meiner Arbeit schon häufig die Frage gestellt, warum vom Gesetzgeber nicht eine Einkommens- und Vermögensschongrenze für die Werkstattbetreuung eingeführt wird?
Natürlich sollte diese Einkommensgrenze nicht eins zu ein zu den Einkommens- und Vermögensgrenzen umgesetzt werden (§§ 85 und 90 SGB XII), aber eine Grenze, die dafür sorgt, dass einkommensstarke oder vermögende Menschen mit Behinderung ihren Beitrag zu ihrer Werkstattmaßnahme leisten. Dies würde dem Gedanken des Solidaritätsprinzips zu Gute kommen und gleichzeitig die Menschen mit Behinderung im Rahmen der Inklusion mit nicht behinderten Menschen gleichsetzen.
Ich bin mir bewußt, dass es sich hierbei um sehr seltene Einzelfälle handelt, aber dennoch muss der Grundsatz "Starke Schultern tragen mehr" auch bei Menschen mit Behinderung gelten.
Sehr geehrter Herr Kerkhoff,
für Bündnis 90/Die Grünen stellt der Besuch einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) eine Maßnahme des Nachteilsausgleichs dar. Dadurch sollen die Nachteile, die schwerstbehinderte Menschen auf dem Arbeitsmarkt haben, ausgeglichen werden. Zudem sollen sie für eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt oder in einem Integrationsbetrieb qualifiziert werden. Wir treten dafür ein, dass alle Maßnahmen zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile unabhängig von Einkommen und Vermögen der Person und der Angehörigen gewährt werden. Dies umfasst auch alle Leistungen nach dem 6. Kapitel SGB XII. In unserem Fraktionsbeschluss „Eckpunkte zur Neuordnung der Eingliederungshilfe“ vom 19.6.2007 heißt es hierzu:
„Der Nachteilsausgleich als rechtliches Prinzip:
Diesem Behinderungsbegriff folgend müsste eine moderne, auf Teilhabe gerichtete Behindertenpolitik ihre Leistungen darauf ausrichten, die individuellen Nachteile, die sich aus bestimmten Funktionsverlusten ergeben, zu beseitigen (z. B. durch Barrierefreiheit) oder aber mit geeigneten Instrumenten auszugleichen (z. B. durch Assistenz). Das Prinzip des Nachteilsausgleichs liegt im Artikel 3 des Grundgesetzes begründet („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“) und muss endlich systematisch auf das Steuer- und Sozialrecht übertragen werden. Andernfalls ist absehbar, dass bestehende Nachteilsausgleiche ausgehöhlt werden und die dringend notwendige Weiterentwicklung der Nachteilsausgleiche unterbleibt.“
Gegen die Anrechnung von Einkommen und Vermögen auf Leistungen, die im Zusammenhang mit dem Besuch einer WfbM stehen, spricht aus unserer Sicht auch, dass die Menschen dort arbeiten und kein Mensch ohne Behinderung dafür zahlen muss, arbeiten zu dürfen. Die Heranziehung von Einkommen und Vermögen würde also den Zielen der Inklusion von Menschen mit Behinderungen aus unserer Sicht diametral entgegen stehen und wäre keinesfalls eine Maßnahme zur Gleichstellung, sondern würde das Gegenteil bewirken.
Wie von ihnen selbst eingeräumt wird, ist die Gruppe der wohlhabenden Werkstattbeschäftigten sehr klein. Daher ist auch zu fragen ob der Aufwand, der sich durch die Prüfung der wirtschaftlichen Situation aller Beschäftigten ergäbe nicht höher wäre als die von ihnen angeführte Ersparnis der Leistungsträger.
Um zu erreichen, dass „starke Schultern mehr tragen“, finde ich es wichtiger für alle Menschen in Deutschland die ungleiche Besteuerung von Arbeits- und Kapitaleinkünften zu ändern. Die OECD hat uns ins Stammbuch geschrieben, dass die Einkommensungleichheit seit 2000 in keinem OECD-Staaten so sehr zugenommen hat wie in Deutschland. Etwa ein Viertel der in den vergangenen Jahren stark gewachsenen Ungleichheit ist auf die Steuerpolitik zurückzuführen. Wir wollen deshalb, dass Kapitaleinkommen genauso zur Finanzierung des Gemeinwesens herangezogen wird wie Lohneinkommen und gleichermaßen der progressiv gestalteten Einkommenssteuer unterliegt, was zur Zeit nicht der Fall ist. Wenn Sie mehr zu unseren Ideen für eine gerechtere Steuerpolitik lesen möchten, finden Sie hier Informationen:
http://www.gruene-bundestag.de/cms/steuern/dok/354/354522.steuergerechtigkeit_in_deutschland.html
Mit freundlichen Grüßen
Ingrid Nestle