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Charlotte Schneidewind-Hartnagel
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Carolin S. •

Frage an Charlotte Schneidewind-Hartnagel von Carolin S. bezüglich Politisches Leben, Parteien

Hallo

warum haben Sie die 2. Säule als demokratisches Mittel, den Bürgerentscheid aus dem Programm gestrichen. Als die Grünen noch klare Opposition waren, war ihnen dies wichtig. Nun da es immer mehr ums regieren geht, will man die, die auf diese Säule gebaut haben und Euch Jahrzehnte auch darum gewählt haben, nicht mehr mit ins Boot nehmen. Das macht mich sehr traurig. Bitte kämpfen Sie um dieses demokratische Mittel, als klare Mitentscheidung und Mitbestimmung und dadurch Lebendigkeit im politischen Leben.

Vielen Dank

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau Schneider,

vielen Dank für Ihre Frage. Wir GRÜNE fordern seit vielen Jahren Instrumente der direkteren Beteiligung und Mitbestimmung der Bürger*innen. Denn die Essenz unserer Demokratie ist, dass Perspektiven aktiv eingebracht werden können. Eine vielfältige Demokratie braucht Einmischung, Repräsentanz, Lust zur Auseinandersetzung und Kompromissfähigkeit. Wir wollen, dass unsere Bevölkerung die Möglichkeit bekommt, die politische Agenda stärker selbst zu gestalten. Dieses Grundprinzip grüner Politik wird sich auch im neuen Grundsatzprogramm wieder spiegeln.
Ich war immer eine Anhängerin direktdemokratischer Elemente. Allerdings war ich auch immer der Ansicht, dass jede Debatte so geführt werden sollte, dass am Ende eine Entscheidung der Vernunft auf der Grundlage von Fakten steht. Leider ist das nicht immer deckungsgleich. Uns alle, die wir für eine direktere Beteiligung von Bürger*innen sind, sollte zum Beispiel stutzig machen, dass die AfD für Elemente direkter Demokratie eintritt. Was folgt hieraus in Zeiten von wachsendem Populismus und Fake News?
Um möglichst alle Bürger*innen an Debatten und Entscheidungen zu beteiligen, muss sichergestellt sein, dass alle umfassend informiert werden. Wir müssen den Spagat hinbekommen, dass die relevanten Informationen einerseits in verständlicher Form vorliegen und dass andererseits die Inhalte nicht zu stark vereinfacht werden. Dieser Spagat ist gar nicht so einfach. Es ist nicht einfach, ein komplexes Thema auf eine Frage zu reduzieren, die die Bürger*innen dann in einem Referendum mit Ja oder Nein beantworten können. In der Auseinandersetzung führt das zwangsläufig zu Zuspitzungen, die zu emotionalen – vielleicht sogar zu der Vernunft widersprechenden – Entscheidungen führen können.
Direktdemokratische Instrumente habe ich auch immer als Elemente verstanden, die Gesellschaft durch gemeinsames Debattieren zu stärken und zu einen. Doch die Reduktion auf eine möglichst kurze, einfache Frage und eine zugespitzte Auseinandersetzung bergen die Gefahr zu polarisieren und zu spalten. Das ist aber nicht das, was ich mir unter direkter Demokratie vorstelle.
Für mehr Demokratie und mehr Beteiligung und Mitbestimmung der Bürger*innen setze ich mich immer ein – das werde ich auch auf dem Parteitag tun. Das gehört aber ohnehin zur grünen DNA. Und das bleibt auch im neuen Programmentwurf so, in dem wir uns für Bürger*innen-Räte stark machen. Mit diesen soll die Möglichkeit geschaffen werden, bei ausgewählten Themen die Alltagsexpertise von zufällig ausgewählten Bürger*innen noch direkter in die Gesetzgebung einfließen zu lassen. Bürger*innen-Räte können auf Initiative der Regierung, des Parlaments oder als Bürgerbegehren, also von unten aus der Bevölkerung heraus zu einer konkreten Fragestellung eingesetzt werden. Das soll auch auf Bundesebene möglich sein.
Ich halte diese Form der direkten Beteiligung in Zeiten starker Polarisierung und gesellschaftlicher Pluralisierung für ein passendes Instrument, um unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen wieder miteinander ins direkte Gespräch zu bringen. Denn nur so kann eine gemeinsame Idee für die Zukunft dieses Landes entwickelt werden, nur im Austausch von Argumenten und Perspektiven kann in einer zersplitterten Gesellschaft Zusammenhalt gesichert werden. Umso mehr gilt das in einer Situation, in der wir sehen, dass Institutionen verknöchern und dass das Pflegen von Privilegien und soziale Selektivität leider zur Zustandsbeschreibung unserer Demokratie gehört.
Um die gesellschaftlichen Gräben zu verringern und die Demokratie zu verbessern brauchen wir demokratische Strukturen, in denen die Bürger*innen sich beraten und einbringen können. Menschen, die sonst nie wirklich miteinander sprechen, müssen sich hier auf die Argumente der anderen einlassen. In einer Gesellschaft, die sich immer mehr in verschiedene Gruppen mit ihren eigenen Filterblasen zerteilt, stellen Bürger*innen-Räte ein Gegengewicht dar. Die Erfahrungen aus Bürger*innen-Räten weltweit zeigen, dass auf diese Weise gegenseitige Verständigung und gegenseitiger Respekt entstehen. Menschen, die an Bürger*innen-Räten teilgenommen haben, interessieren sich danach verstärkt für politische Fragen oder beginnen, sich selbst zu engagieren. Gerade, wenn es um Fragen geht, die die Gesellschaft spalten, wie etwa bei der Aufnahme von Geflüchteten oder Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise, oder auch bei Fragen, welche die Abgeordneten unmittelbar selber betreffen, etwa der Altersversorgung.
Parlamente brauchen eine größere Offenheit und bessere, vielfältigere Beratung, auch abseits von Lobbyismus und einer kleinen Gruppe von Expert*innen, sondern von dort, wo das (Zusammen-)Leben stattfindet. Bürger*innen-Räte politisieren die Beratung von Entscheidungsträger*innen. Das erhöht auch die Legitimation dieser Beratung, denn sie ist transparent und in eine breitere gesellschaftliche Debatte eingebettet.
Wie Sie wissen, sind wir GRÜNE seit unserer Gründung eine basisdemokratisch ausgerichtete Partei. Unsere Mitglieder haben ein großes Mitspracherecht bei der künftigen Programmatik und bislang sind in unserer Parteizentrale weit über 1.000 Änderungsanträge zum neuen Grundsatzprogramm eingegangen, einige auch zu der Frage direkter Beteiligung und direkter Demokratie. Auf unserem kommenden (digitalen) Parteitag vom 20. bis 22. November werden wir unser neues Grundsatzprogramm und die am breitesten unterstützten Änderungsanträge ausgiebig diskutieren und dann das Programm in seiner endgültigen Fassung beschließen.

Mit freundlichen Grüßen
Charlotte Schneidewind-Hartnagel