Victor Perli
Victor Perli
DIE LINKE
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Frage von Anna W. •

Frage an Victor Perli von Anna W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Perli,

mein Name ist Anna Wehrheim und ich bin Schülerin der 12 Klasse des Gymnasiums am Römerkastell in Alzey. Im Rahmen meiner Facharbeit "Von der Politikverdrossenheit der Bürger zur Bürgerverdrossenheit der Politiker- Befindet sich die repräsentative Demokratie in der Krise?" beschäftige ich mich unter anderem mit der sich wandelnden Protestkultur in unserem Land und interessiere mich deshalb für Stimmen von Bürgern und Politkern zu ihrem subjektiven Empfinden des Verhältnisses von den Regierenden zu den Regierten.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich in meiner Arbeit unterstützen könnten, indem Sie den angehängten Fragebogen beantworten.
Schon jetzt vielen Dank für Ihre Zeit und Mühe.

Mit freundlichen Grüßen

Anna Wehrheim

1) Wie bewerten Sie die aktuelle Protestkultur in Deutschland, im Hinblick auf die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 und die Proteste gegen Castortransporte?

2) Wie bewerten Sie die momentan praktizierte Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit?

3) Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um diese Kommunikation in Zukunft aufrechtzuerhalten, beziehungsweise zu verbessern?

4) Halten Sie persönlich Volksentscheide auf Bundes- und/ oder Länderebene für sinnvoll?

5) Haben Sie alternative Vorschläge, die Bürger besser in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden und die Akzeptanz der Bevölkerung für bereits getroffene Entscheidungen zu erhöhen?

Victor Perli
Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrte Frau Wehrheim,

herzlichen Dank für Ihre Anfrage zur Demokratie und Protestkultur in Deutschland. Die Wartezeit bitte ich zu entschuldigen. Mir war es wichtig Ihre Fragen präzise und in einem angemessenen Umfang zu beantworten.

1) Wie bewerten Sie die aktuelle Protestkultur in Deutschland, im Hinblick auf die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 und die Proteste gegen Castortransporte?

Proteste und demonstrativer Widerstand sind ein wichtiger Bestandteil einer lebendigen Demokratie. Sie tragen zur Meinungsbildung der Bevölkerung und der politischen Parteien bei. Ich begrüße, dass sich viele Menschen mit Ihrer Meinung gegen das Milliarden-Projekt "Stuttgart 21" und die ignorante Atompolitik von CDU und FDP einbringen. Beide Protestbewegungen stehen exemplarisch für eine wieder erstarkende Demonstrationskultur ebenso wie beispielsweise die Massenblockaden gegen Aufmärsche von Neonazis oder die „Bildungsstreik“-Wochen in den vergangenen Jahren. Ich hoffe, dass sich künftig mehr Betroffene gegen den Sozialabbau und die Demolierung unseres Sozialstaats wehren.

2) Wie bewerten Sie die momentan praktizierte Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit?

Durch die Digitalisierung und das Internet ist es heute im Vergleich zu früher einfacher sich zu informieren, was in den Parlamenten passiert. Informationen können auch ohne irgendeinen Filter wie die Medienberichterstattung abgerufen werden. Zeitgleich sind Parlamentarier zum Beispiel durch eMails, Webseiten oder Portale wie abgeordnetenwatch.de einfacher zu erreichen. Trotz dieser Entwicklung beklagen viele Menschen abgehobene und ferne Politiker, die die Interessen der Menschen nicht oder nur unzureichend beachten würden. Eine immer größere Zahl von Wahlberechtigten wendet sich komplett vom politischen System ab.

Für mich liegt die Ursache dafür nicht in einer falschen Kommunikation, sondern in einer falschen Politik. Um bei Ihren Themen zu bleiben: Diverse Umfragen haben bestätigt, dass deutliche Bevölkerungsmehrheiten gegen "Stuttgart 21" und die Verlängerung der Atomlaufzeiten sind. Bei "Stuttgart 21" kommt hinzu, dass auch die SPD für das Projekt war und sogar die Grünen im Dezember 2004 im Bundestag und im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn für "S21" stimmten. Das gleiche Bild haben wir zum Beispiel beim Bundeswehreinsatz in Afghanistan und beim Abbau sozialer Rechte (man denke nur an die Agenda 2010, Hartz IV, Dumpinglöhne, immer mehr Leiharbeit und Zeitverträge, Rente erst ab 67 usw.). In jedem der genannten Fälle entschieden parlamentarische Mehrheiten gegen die Interessen der Mehrheit außerhalb der Parlamente.

Deshalb stellt sich die berechtigte Frage wieso die Interessen der Bevölkerung und die Entscheidungen der regierenden Parteien derartig weit auseinanderklaffen. Dazu kann man lange Aufsätze schreiben, Stéphane Hessel bringt es in seinem aktuellen Millionenbestseller "Empört euch!" wie folgt auf den Punkt: „Wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung als Europa in Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes (...) niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates".

3) Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um diese Kommunikation in Zukunft aufrechtzuerhalten, beziehungsweise zu verbessern?

Nicht die Form der Kommunikation ist das Problem, sondern der Inhalt der Politik. Die Frage der politischen Alternativen führt an dieser Stelle zu weit, deshalb nur in Kürze: Statt der Unterwerfung der Politik unter die Interessen der Finanzmärkte brauchen wir wieder eine Vorrangstellung (Primat) der Politik.

Die Artikel 20 und 28 des Grundgesetzes konstituieren die Bundesrepublik als demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Dem Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth zufolge sollte damit zum Ausdruck kommen, dass "eine Demokratie nur funktionieren könne, wenn sie sich in die Gesellschaft selbst hinein erstrecke und allen sozialen Schichten die gleiche Chance im Wirtschaftsprozess biete". Das ist heute nicht mehr gegeben. DIE LINKE setzt sich dafür ein das Primat der Politik zurückzuerobern und das Grundgesetz und das darin enthaltene Sozialstaatsprinzip gegen die Aushöhlung durch die Marktradikalen zu verteidigen.

4) Halten Sie persönlich Volksentscheide auf Bundes- und/ oder Länderebene für sinnvoll?

Eindeutig ja. Auf Landesebene müssen (wie auch auf der kommunalen Ebene) die Voraussetzungen für Bürgerbegehren und Volksentscheide vereinfacht werden. Der Aufwand zur Einleitung eines Bürgerbegehrens sollte möglichst gering und ohne juristischen Expertenrat möglich sein. Die Zahl der zu sammelnden Unterschriften sollte deutlich gesenkt werden. In Niedersachsen beispielsweise werden Unterschriften von 10 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung benötigt. Bis auf eine Ausnahme sind in den letzten Jahren alle Initiativen an diesem Quorum gescheitert. Zudem werden viele Initiativen dadurch von vornherein abgeschreckt.

Auf Bundesebene setzt sich DIE LINKE seit langem für die Einführung einer dreistufigen Volksgesetzgebung (Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid) ein. Nach Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes wird die Staatsgewalt vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Bisher gibt es allerdings - mit Ausnahme der in Artikel 29 des Grundgesetzes geregelten Abstimmungen zur Neugliederung von Bundesländern - kein rechtliches Instrumentarium, damit die Bevölkerung tatsächlich auch in Abstimmungen an der Bundespolitik mitwirken kann. Hier bedarf es eines stärken Drucks auf die anderen Parteien im Bundestag.

5) Haben Sie alternative Vorschläge, die Bürger besser in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden und die Akzeptanz der Bevölkerung für bereits getroffene Entscheidungen zu erhöhen?

Die Vereinfachung und der Ausbau von Volksentscheiden ist ein wichtiger Schritt um die demokratische Teilhabe der Bevölkerung zu erhöhen. DIE LINKE will die demokratische Mitbestimmung und Kontrolle aber nicht nur im Staat sondern auch in der Wirtschaft, in den Massenmedien, in Bildung, Wissenschaft und anderen Gesellschaftsbereichen ausbauen. Es gilt eine „Politik von unten“ zu entwickeln. Dies beinhaltet auch, dass in Deutschland - wie in anderen europäischen Ländern - der politische Streik und der Generalstreik zulässig sein müssen.

Einige weitere Vorschläge zur Demokratisierung der Gesellschaft:
- Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und der kommunalen Finanzen („ohne Geld gibt es nichts mehr zu entscheiden“)
- Stärkung des öffentlichen Eigentums insbesondere bei der Daseinsvorsorge - Privatisierung ist Entdemokratisierung
- Einführung von Bürgerhaushalten in Kommunen und Stärkung partizipativer Haushaltspolitik
- Ausbau von Mitwirkungsrechten in Schule, Ausbildung und Hochschule
- Erweiterung der (paritätischen) Mitbestimmung in Betrieben
- Durchsetzung des Vetorechts der Belegschaften gegen die Schließung von Betrieben, die nicht von Insolvenz bedroht sind.

Die Parteien müssen aber auch an sich selbst arbeiten und bereit sein, einmal getroffene Entscheidungen zu korrigieren. Viel zu oft hat man in den letzten Jahren den Satz „Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgen unsere Politik besser erklären“ gehört. Eine bessere Kommunikation macht aber keine bessere Politik - und das wissen die Bürgerinnen und Bürger.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg für Ihre Facharbeit!
Mit besten Grüßen

Victor Perli

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