Portrait von Simon Lissner
Simon Lissner
Bündnis 90/Die Grünen
Zum Profil
Frage stellen
Die Frage-Funktion ist deaktiviert, weil Simon Lissner zur Zeit keine aktive Kandidatur hat.
Frage von Volkmar D. •

Frage an Simon Lissner von Volkmar D. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Lieber Simon Lissner,

vorweg möchte ich folgendes loswerden. Ich wähle schon immer die Grünen, bin auch Mitglied, zur Zeit mehr passiv als aktiv und stehe voll dazu.
Meine Frage bezieht sich auf die Afghanistan-Politik: Nach dem 11. September und anderen unerfreulichen Vorfällen muss sich die westliche Welt zu recht die Frage nach der Sicherheit stellen. Mitverantworliche für Anschläge und menschverachtenden Ideologien kann man in den Reihen der Taliban ausmachen. Diese Fanatiker terorrisieren die eigene Bevölkerung, freie Wahlen werden durch Anschläge behindert,Frauen werden in unaktzebtabler Weise unterdrückt, täglich werden Morde begangen, kurzum, alles wofür wir stehen wird mit Füssen getreten. Und man muss sich die Frage stellen wie geht man mit dieser Irrationalität, Unberechenbarkeit und Menschenverachtung um. Leute mit denen man nicht diskutieren kann, denen kann man nicht mit Vernuft begegnen. In Afganistan herrscht Krieg und kein Poliker in Deutschlang gibt das zu (ist ja auch unpopulär), es gibt natürlich auch kein Mandat dafür sich an sowas zu beteiligen, dennoch ist meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit was zu bewegen, indem alle Natobündnispartner die Truppenanzahl auf ein vielfaches erhöhen und versuchen die Taliban vernichtend zu schlagen. Mit Friedensmissionen allein wird man dort nichts ändern können und man kann unangenehme Aufgaben nicht nur an Bündispartner abgeben. Was sagen Sie dazu????

Gruss

Volkmar Derstroff

Portrait von Simon Lissner
Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Lieber Volker Derstroff,
gerne beantworte ich Ihre Fragen. Ich möchte mit Ihrer letzgeschriebenen These beginnen. Sie schreiben, die einzige Möglichkeit etwas zu bewegen, sei die Truppenzahl der NATO-Verbündeten zu erhöhen. Einer der vermutlich best informierten Experten im Bundestag ist der Grüne Abgeordnete Winfried Nachtwei ( http://www.nachtwei.de/ ), der sich insbesondere der Frage widmet, welche Erfolge die Aufbau und zivile Friedensarbeit hat. Obwohl die eingesetzten Mittel für diesen Bereich nur einen Bruchteil dessen ausmachen, was an Geldmitteln für den Militäreinsatz bereitstehen, waren diese Fortschritte nicht zu übersehen.

Spätestens seit 2007 war jedoch auch absehbar, dass Operation Enduring Freedom und NATO ihren kontraproduktiven militärischen Kurs verstärken und die Lage in Afghanistan mehr und mehr eskaliert. Vom ursprünglichen Kriegsziel, nämlich Bin Laden zu fangen und dem Terrorismus den Boden zu entziehen, war schon bald nicht mehr die Rede. Bin Laden erfreut sich soweit wir wissen, immer noch seiner Freiheit und der Terrorismus nimmt seinen Aufschwung. Den unübersehbaren Anfangserfolgen für die afghanische Zivilgesellschaft drohten empfindliche Rückschläge: Terroristische Provokationen wurden mit militärischen Luftangriffen beantwortet, die in erster Linie die Zivilbevölkerung trafen (Hochzeitsgesellschaften, Dorfbewohner/innen, Kinder). Sie zerstörten teilweise die mühsam aufgebaute Infrastruktur, ob Schulen, Wasserversorgung oder Krankenhäuser, Straßen oder Gebäude in erheblichem Umfang. In diesem Stadium warnten insbesondere die Welthungerhilfe aber auch die Frankfurter Hilfsorganisation medico international, dass ihre zivilen, neutralen Helfer/innen durch die Vermischung zivilen und militärischen Engagements in Gefahr geraten würden, da sie von den sogenannten Taliban nicht als neutral anerkannt würden.
Insbesondere das Zivilmilitärische Kommando führte bei der Bevölkerung und bei den sogenannten Taliban zur Wahrnehmung der Hilfsorganisationen als Teil der militärischen Strategie. Aus Sicherheitsgründen hat die medico international die Tätigkeit unterdessen eingestellt, nachdem Opfer unter den Mitarbeiter/innen der Organisation zu beklagen waren. Caritas International fordert den Rückzug der ISAF.

Während der militärische Aufwand erheblich gesteigert wurde, hielt der zivile Aufwand nicht Schritt. Im Gegenteil. Die Verhältnismäßigkeit ist vollkommen auf den Kopf gestellt. In jedem Winter, so auch der Winter 2009/2010 droht eine humanitäre Katastrophe. Diese Situation ist die Spitze eines Eisberges an Versäumnissen und gebrochenen Versprechen der westlichen Verbündeten. Nach der Hilfsorganisation Oxfam waren so noch im Winter 2008/2009 fünf Millionen Menschen in Afghanistan akut vom Hunger bedroht.
Statt Hilfe in der Not, Panzer und Bombenflugzeuge, statt ziviler Helfer/innen mehr Soldaten. Dieser Logik, und damit komme ich zu Ihrer These, wird bereits seit mindestens zwei Jahren gefolgt, aber das, was Sie als Ergebnis erwarten, tritt nicht ein. Das Gegenteil ist der Fall.

Es ist mir eigentlich kein Militärstratege bekannt, der davon ausgeht, in Afghanistan sei ein Krieg zu gewinnen. Im vergangenen Jahrhundert sind alle Mächte, die dies versuchten, gescheitert. Afghanistan gilt als "das Vietnam Russlands". Die "neue Strategie" Obamas besteht darin, mehr Bodentruppen ins Land zu schicken. Nicht etwa deshalb, weil die USA glaubt, den Krieg "gewinnen" zu können, sondern weil man militärisch in der Sackgasse steckt.
Die Kombination aus Bodentruppen, die gegenüber der Bevölkerung "mehr Gesicht" zeigen sollen, ist die Vorbereitung dessen, was während des Vietnamkrieges "Vietnamesierung", im Irak "Irakisierung" genannt wurde. Dies wird aktuell für Afghanistan als "Afghanisierung" diskutiert. Es dient der Vorbereitung des Rückzuges der US-Truppen.

Während Barack Obama die US-Strategie ändert, ist unsere Bundesregierung eifrig bemüht, den gescheiterten Bush-Kurs umzusetzen. Während Obama von Krieg in Afghanistan spricht, weigert sich die Bundesregierung, dieses böse Wort in den Mund zu nehmen. Es wird vermutet, dass Jung dies u.a. aus innenpolitisch-versicherungsrechtlichen Gründen vermeidet. Die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen, dienen zwar allesamt einer Eskalation des Militäreinsatzes, ob Tornados, Truppenverstärkung, AWACS oder Erweiterung des Schießbefehls. Sie weisen aber keinerlei schlüssiges Konzept auf, wohin das führen soll, noch scheinen sie im Einklang mit dem UN-Mandat zu stehen.

Jung fabuliert mal von 10 Jahren Einsatzdauer, dann wieder wird ein Zeitraum ganz offen gelassen. Das ist Dilettantismus auf dem Rücken unserer Soldat/inn/en, denen niemand ihren Idealismus absprechen sollte (Eintreten für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte im Namen des UN Mandates – und das mit dem Risiko ihres höchsten Gutes – Gesundheit und Leben).

Dass, was hierzulande geleugnet wird, ist jedoch längst eine Tatsache. Zum Beispiel für die Kanadier. Fazit: „Kanada befindet sich im Krieg, und Kanadier sind Kombattanten.“ (so eine Untersuchung im Auftrag der kanadischen Regierung). Daraufhin begrenzte das Kanadische Parlament das Mandat für seine Truppen endgültig bis 2011. Auch der Rückhalt in den Bevölkerungen der NATO-Staaten sinkt rapide. Nach zwei repräsentative Umfragen in diesem August, wollen rund zwei Drittel der Befragten Briten einen Abzug ihrer Truppen aus dem Krisenland. Eine aktuelle Umfrage der Washington Post mit dem Fernsehsender ABC ergab, dass die meisten Amerikaner gegen den Krieg in Afghanistan sind. Nur ein Viertel meint, mehr Streitkräfte müssten dorthin entsendet werden.

Am Ende der Sackgasse bleibt wohl für die NATO von all den hochgesteckten Zielen nicht viel mehr als ein ernüchternder Satz übrig. Theodor Fontane hat diesen in seinem Gedicht "Das Trauerspiel von Afghanistan" von 1847 erstmals formuliert: „Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.“

Die derzeit in Afghanistan stationierten Truppen sind nicht neutral. Sie stehen an der Seite einer Zentralregierung, die nicht nur nicht anerkannt, sondern militärisch bekämpft wird. Die Kombattanten werden unter dem wohlfeilen Kampfbegriff "Taliban" undifferenziert in einen Topf geworfen, um die Wahl der Mittel zu rechtfertigen. Während die Verbündete Regierung als eine der korruptesten der Welt gilt, besteht das feindliche Lager der "Taliban" aus islamistischen oder nationalistischen Paschtunen, Drogenhändlern, lokalen Kommandeuren, Warlords, Al-Qaida-Terroristen, ausländischen Jihadisten, religiösen Fundamentalisten, Antizentralisten und autonome Kräften, vereint in einer "Negativ-Koalition", mit ganz unterschiedlichen Motiven. An dem Versuch, eine Zentralregierung gegen diese zahlreichen Interessengruppen durch zu setzen, ist letztmalig Russland gescheitert. "Den Rest zu retten", dafür taugt die NATO sichtbar nicht.
Afghanistan wird auf lange Sicht kein Staat im klassischen Sinne werden und schon gar keine Demokratie, wie wir sie verstehen. Der Kampf zwischen dem Autonomieanspruch der Stämme und dem Herrschaftsanspruch des Staates durchzieht im Übrigen die gesamte Geschichte dieses Landes. Frieden könnte bringen, wenn die UN unter Einbeziehung aller umliegenden Staaten einen neuen Mediationsprozess zwischen den Clans, Stämmen und Bevölkerungsgruppen bringen würde. Auch die aufgeklärten, demokratischen Kräfte und die Paschtunen müssten beteiligt sein. Grundvoraussetzung eines solchen Neuanfangs ist jedoch, dass die NATO sofort eine Exit-Strategie entwickelt, ernsthafte Verhandlungen aufnimmt und ein festes Abzugsdatum formuliert.
Unter der bisherigen Prämisse des „Wer sich zuerst bewegt, der hat verloren“ hingegen, würden alle verlieren. Einen Weg zu finden, den die Afghanen mittragen können und sich einzugestehen, dass die NATO einen Krieg gegen den Willen der Afghanen nicht gewinnen und sein Gesellschaftssystem oktroyieren kann, ist nun das Gebot der Stunde – sonst droht dem Westen ein zweites Vietnam.

Zum Schutz des erforderlichen Friedens-Prozesses bedarf es einer UN-Truppe mit robustem Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta, die aus Angehörigen der Region selbst und aus Angehörigen muslimischer Staaten zusammen gesetzt sein sollte. Das würde voraus setzen, dass die US-Regierung ihre geostrategischen Interessen aufgibt, von denen die hiesige Bundesregierung in Bündnistreue fest, wohlweislich schweigt (z.B. müsste der gigantische Luftwaffenstützpunkt Bagram von Obama geschlossen werden).

Ihre Frage nach der Sicherheit wirft die Frage auf, wer tatsächlich am gefährdetsten ist. Diese Frage lässt sich eindeutig beantworten: Unter den terroristischen Anschlägen leiden die Menschen in den muslimischen Staaten am meisten. Diese haben die meisten Opfer zu beklagen und in der Summe die meisten der Schäden erlitten. Zwar gab es den spektakulären Anschlag am 11.9. in den USA, den Anschlag auf die Madrider U-Bahn um die bekanntesten zu benennen, aber Tatsache ist eben auch, dass die Sicherheitslage sowohl in Europa wie auch in den USA schlicht sicher ist, während das im Irak, auf den Philippinen, in Afghanistan, in Pakistan, in Israel (eines der wenigen nicht muslimischen Länder) im Nahen Osten, um ebenfalls nur eine vollkommen unvollständige Zusammenstellung zu benennen, völlig anders ist. Die Menschen dort Leben in ständiger Bedrohung.

Ihre Sichtweise auf die Menschenrechtsverletzungen finde ich stark verkürzt.
Ja. Sie haben recht. All dies ist richtig. Aber es ist schlicht nicht einmal die halbe Wahrheit: Nach Ihrer Definition gewiss unentschuldbarer und unakzeptabler Menschenrechtsverletzungen, müssten, wenn ich Ihnen in ihrer berechtigten (!) Empörung folge, in eine sehr große Zahl von Ländern auf den großen Kontinenten "Truppen entsendet" werden. Der Westen, darunter auch Deutschland selbst, hat sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht: Guantanamo und die Duldung von Entführungen von Tatverdächtigen in illegale "Verhörzentren" außerhalb jedweder rechtsstaatlicher Kontrolle durch die Bush-Regierung. Den Schutz der Menschenrechte durchzusetzen, dass ist ein langwieriger und zäher Prozess. Er beginnt stets in den Köpfen der Menschen. Achtung, Toleranz und Respekt. Die Anerkennung der Rechte der Frauen, der Rechte von religiösen, weltanschaulichen und sexuell Andersdenkenden: Wir sollten uns nicht leichtfertig über andere erheben.
Bedenken Sie bitte, dass es noch die Generation der heute 50 jährigen erlebte: Staatlich nicht nur geduldete, sondern rechtlich abgesicherte Vergewaltigung in der Ehe, gesetzliche Diskriminierung von Homosexuellen galt als sakrosankt, Schläge für Kinder gehörte zum erlaubten "Erziehungs"repertoire ebenso, wie das Schlagen von Frauen als männliches "Vorrecht" galt. Katastrophale Zustände in der Psychiatrie, Misshandlungen von Kindern in Kinderheimen und vieles mehr.

Gegen all dies haben sich Menschen aufgelehnt und alle Veränderungen mussten durchgesetzt werden. Geschenkt wurde uns unsere Freiheit nicht. Aber mit Panzern und Bomben eines oder mehrerer fremder Länder zur Durchsetzung - meinen Sie, da wäre irgendwas gegangen in unserem Land?

Die Menschenrechte sind unteilbar. Sie gelten für alle Menschen des Planeten. Ich hoffe, dass Obamas "Change" auch eine veränderte Haltung der USA zum Internationalen Gerichtshof nach sich zieht, ebenso wie eine Hinwendung zu all den anderen wichtigen Internationalen Institutionen. Nicht förderlich für den Frieden in der Welt sind Alleingänge einzelner Staaten, die für sich kraft Macht und Reichtum in Anspruch nehmen, Recht und Gesetz in die eigene Hand zu nehmen.

Mit freundlichen Grüßen
Simon Lissner