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Frage von Stephan B. •

Frage an Rolf Stöckel von Stephan B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Stöckel,

in Ihrer Antwort vom 21.7. an Herrn Göhler las ich, dass Sie ein Befürworter des Kinderwahlrechts sind bzw. sogar einen Antrag dazu stellen.
Nun freue ich mich immer, wenn Abgeordnete sich für mehr Demokratie einsetzen, dennoch bin ich beim Kinderwahlrecht etwas skeptisch. Ein Wahlrecht ab 16 oder sogar 14 kann ich mir durchaus vorstellen und dort sehe ich auch positive Aspekte, denn 14-Jährige setzen sich bereits kritisch mit Meinungen und Ansichten ihrer Eltern auseinander.
Aber ist bei einem Wahlrecht von Geburt an nicht die Gefahr vorhanden, dass Kinder nur als "erweiterte Stimme" ihrer Eltern "ausgenutzt" werden können?
Nun habe ich durchaus ihren Antrag gelesen und habe dazu einige weitere Fragen zur praktischen Umsetzung:
1. "von Geburt an": Angenommen ein Kind wird im August geboren und im September sind Wahlen. Es wäre dann also vollkommen legitim, wenn ein Elternteil für das Kind mitwählt?
2. Wahlkampf: Nach Einführung eines Wahlrechts für Kinder würde natürlich auch der Wahlkampf in Teilen "kindsgerechter" werden. Besteht dort nicht eine größere Gefahr, mit unsachlichen Argumenten Kinder zu locken?
3. elterliche Treuhandfunktion: Warum dies? Wäre es nicht zielführender, wenn die Kinder selbst ihr Kreuz machen, sobald sie den Willen zur demokratischen Partizipation haben und sie vorher einfach Nichtwähler sind? Sonst sehe ich hier vorallem das Ausnutzen der eigenen Kinder als erweiterte Stimme als Gefahr, wie oben schon angedeutet.

Da ich ob meines Realitätsverständnisses davon ausgehen muss, dass der erwähnte Antrag abgelehnt wird: Wäre es vielleicht besser, wenn Sie das Thema schrittweise angehen und beispielsweise zu erst ein Wahlrecht ab 16 fordern? Hier sehe ich zumindest eine realistische Chance, dass Sie auch die Zustimmung der Oppositionsparteien bekommen.

Vielen Dank,
mit freundlichem Gruß,
Stephan Beyer

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Beyer,

als Vater von drei Kindern war ich lange -- wie Sie -- skeptisch und habe ein (Stellvertreter)Kinderwahlrecht für Eltern abgelehnt. Doch seit meiner damaligen Arbeit im Familienausschuss, in der Kinderkommission des Bundestages und als ehemaliger Kinderbeauftragter der SPD-Fraktion denke ich heute anders. Nach intensiven Auseinandersetzungen mit der Theorie und Praxis der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, ihrer nationalen Umsetzung und dem politischen Umgang damit, dem Austausch mit Praktikern, Fachleuten, Jugendorganisationen und Wahlrechtsinitiativen bin ich heute zutiefst überzeugt, dass die Umsetzung von Kinderrechten, und speziell ihre Partizipationsmöglichkeiten, neuer Impulse bedarf, wenn sie nicht in "Sonntagsreden" und einer politischen Doppelmoral auf der Strecke bleiben soll.

Natürlich ist eine Grundgesetzänderung mit dem Ziel "Wahlrecht von Geburt an" ein schwieriges Projekt. Es ist die Idee, die etwas bewirkt, die einen Diskurs in Bewegung setzen kann und zur Verwirklichung drängt. Es soll ein Prozess in Gang gesetzt bzw. voran getrieben werden, der das ursprüngliche Ziel vielleicht nicht erreicht, der aber vieles befördern kann, was man sich gemeinsam unter einer kinder- und familienfreundlicheren Gesellschaft vorstellen und einfordern kann.

Ich gehe von drei Thesen aus:

1. Kinder und Jugendliche sind eigenständige Persönlichkeiten und sollen, so früh es geht, ihrer Entwicklung entsprechend gefördert und an allen, sie betreffenden Angelegenheiten beteiligt werden, damit sie zu mündigen, kritikfähigen, selbstbestimmten und selbstbewussten Individuen heranwachsen können, die ihre soziale und politische Verantwortung in der Familie, in Gruppen und der Gesellschaft wahrnehmen. Diese, für die Persönlichkeitsentfaltung und die Demokratie selbst notwendigen Prozesse müssen so früh und so weit es geht in der Familie, in Kinderhäusern, in Schulen, im Stadtteil, in Vereinen gefördert und eingeübt und bei allen öffentlichen Belangen und Verfahren auch institutionell stärker - nicht nur als Symbolveranstaltung ohne konkrete Folgen - verankert werden.

2. Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 18 Jahren sind in Deutschland ab Geburt Trägerinnen und Träger von Grundrechten und gehören zum Souverän des Staatsvolkes im Sinne des Grundgesetzes, dass das persönliche Wahlrecht aufgrund eines nachrangigen Artikels aus nachvollziehbaren Gründen in der persönlichen Durchführung einschränkt. Diese Bestimmung ist aber der jeweiligen politischen Gestaltung unterworfen (vgl. Wahlaltersenkung von 21 Jahren auf 18 oder auf 16 Jahre bei Landtags- und Kommunalwahlen, Ausländerwahlrecht). Es geht also beim Kinderwahlrecht nicht um die Diskriminierung "kinderloser" Wähler und Wählerinnen, sondern um die Veränderung der praktischen Ausgrenzung von Millionen Deutscher aus der Demokratie.

3. Die tatsächlichen Bedingungen der Verwirklichung von Interessen und Grundrechten, die politische Gestaltung im Sinne von Würde, Menschenrechte und Persönlichkeitsentwicklung fördernden Umständen wird erst Realität, wenn die Rechte unterschiedlicher Gruppen tatsächlich gleich sind. Das ist die Erfahrung aus der Geschichte des Frauenwahlrechts und der tatsächlichen praktischen Gleichstellung von Frauen. Daher gibt es einen dialektischen Zusammenhang unserer ökonomisch und sozial gut begründeten Kinder- und Familienpolitik und dem Fortschritt in der Entwicklung der Rechte und Interessenlagen von Kindern. Die ihnen großzügig von den bestimmenden Gruppen und Eliten freiwillig gebotene Beteiligung wird zu Recht von Anbietern und Betroffenen nicht wirklich ernst genommen. Der Grundsatz "one man - one vote!" gilt deshalb auch hier.

Die grundsätzlichen Fragen, die sich vor den machtpolitischen, pragmatischen und systemischen stellen, sind: Ob dieser radikaldemokratische Ansatz der Kinderpolitik überhaupt eine politische Aufgabe für uns ist und wenn ja, ob Kinderrechte durch Wahlaltersenkungen oder durch das Vertretungsrecht, das ja nach dem Grundgesetz auch eine Pflicht und Verantwortung der Eltern gegenüber ihren Kindern ist und in anderen öffentlich-rechtlichen Belangen selbstverständlich akzeptiert wird, zumindest besser als bisher realisiert werden können?

Dass Kinder das persönliche Wahlrecht ab Geburt selbst ausüben, ist natürlich absurd, eine Wahlaltersenkung meines Erachtens schon realistischer, aber zu Recht umstritten und löst nur einen geringen Teil des Problems, nämlich für die 16 bis18-Jährigen*.* Bei allen Diskussionen mit Jugendlichen in den betroffenen Altersstufen sind zwei Drittel gegen eine Wahlaltersenkung. Zielkonflikte ergeben sich dabei auch aus davon zu Recht abgeleiteten Forderungen nach Senkung des Volljährigkeits- und Strafmündigkeitsalters.

Zu Recht wird gegen die Wahrnehmung des Kinderwahlrechts durch die Eltern eingewandt, dass die Sichtweise, Kinder seien Besitz oder Verfügungsmasse der Eltern, gestärkt wird und dass das Kinderwahlrecht für parteipolitische Interessen der jeweiligen Elternteile missbraucht werden könnte. Aber sind diese Bedenken wirklich ausreichende Argumente in einer stabilen Demokratie, die heute ganz andere Probleme und Widersprüche, die wir gerne verändern würden, zum Beispiel massenweise Wahlenthaltung, verkraften kann?

Die vordergründig praktischen Fragen, wie etwa "wer soll von den Eltern mit einem Kind das Wahlrecht ausüben?", oder "wie machen das geschiedene Eltern?", werden in allen anderen Lebensbereichen, auch in öffentlich-rechtlichen, gelöst*.* Warum nicht auch in der Wahrnehmung des Kinderwahlrechts?

Jugendverbände vertreten zu Recht und engagiert die Auffassung, Kinder müssten sich selbst organisieren und eigenständig ihre Rechte erkennen, einfordern und organisieren, weil sie kein Anhängsel ihrer Eltern sein sollen. Sehen wir einmal von den üblichen Eigeninteressen der organisierten Kinderlobby und ihrer Funktionäre in Deutschland ab, deren Einfluss tatsächlich leider immer mehr abnimmt, teile ich diese Position grundsätzlich, erkenne aber nicht, warum wir das eine tun und das andere lassen sollten. Warum sprechen die unterstützungswürdigen Aktivitäten der Kinder- und Jugendarbeit, der Verbände und Initiativen, der Kommunalpolitik, die Partizipationsforderung, die im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert ist, gegen das "Kinderwahlrecht", das von Eltern bis zum 18. Lebensjahr verantwortlich wahrgenommen werden soll? Das kann mir bisher niemand sagen. Ich glaube, dass umgekehrt "ein Schuh daraus wird, mit dem Kinder besser laufen lernen".

Beides ist notwendig und würde sich gegenseitig verstärken: Mehr praktische Parti­zipation und Einübung von Demokratie in allen Lebens- und Lernbereichen der Kin­der und Jugendlichen und gleichzeitig mehr Verwirklichung durch das Kinderwahlrecht.

Eine dogmatische Ablehnung dieser Initiative ohne weiterführende Alternativen aufzuzeigen, halte ich für nicht glaubwürdig. Das wäre perspektivlos, bei besserem Wissen sogar zynisch, wenn uns als Antwort nichts Besseres einfallen würde.

Ich kann mir gut vorstellen, dass bereits die strittige öffentliche Debatte darüber, aber vor allem die Verwirklichung des Kinderwahlrechts selbst, Prozesse in Bewegung setzt, die in den meisten Familien, zwischen zunehmend reifer werdenden Kindern und ihren Eltern, und dann in viele gesellschaftliche Bereiche hinein, politisierend und demokratisierend wirken werden.

Das Wahrnehmungsrecht der Eltern für das Wahlrecht ihrer Kinder würde ihnen mehr Verantwortung im Sinne einer geforderten und reflektierten "Pflicht" auferlegen. Erzwingen kann man das sicherlich nicht. aber einen Versuch wäre es wert.

Mit freundlichen Grüßen
Rolf Stöckel