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Frage von Daniel Z. •

Frage an Jörn Thießen von Daniel Z. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Thießen

Beratschlagen Sie in Ihrer Partei eigentlich auch schon über die Abschaffung der Wehrpflicht? Die meisten anderen Länder der EU haben ja bereits eine Berufsarmee. Außerdem ist die Wehrgerechtigkeit schon lange nicht mehr gegeben. Wenn einer von 7 die gemustert werden, eingezogen wird, dann ist das schon wie russischen Roulett, dass nur einer verliert. Außerdem können dann die jungen Männer des Landes, ein Jahr früher studieren, arbeiten oder eine Ausbildung machen, was - wie ich meine - der Wirtschaft zugute kommen dürfte. Und nicht zuletzt sollte die Wehrpflicht doch im Zuge der Gleichberechtigung abgeschafft werden, dann junge Frauen ja nicht davon betroffen sind, was diskriminierend und ungerecht ist!

Freundlicher Gruß

Daniel Z.

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Antwort von
SPD

Lieber Herr Ziemski,

wir haben einen neuen Vorschlag gemacht: das neue Modell einer „subsidiären“ Wehrpflicht behält alle Wesenselemente der allgemeinen Wehrpflicht bei – Erfassung, Musterung, Einplanung und Einberufung (alternativ KDV oder die anderen Dienste) –, beschränkt sich aber bei der Einberufung auf diejenigen, die vorher auf Befragen erklärt haben, dass sie diesen Wehrdienst als GWDL oder FWDL auch leisten wollen. Diese Frage ist neu. Sie führt ein starkes Element der Freiwilligkeit in die Wehrpflicht ein. Gibt es genügend geeignete freiwillige Wehrpflichtige, werden andere nicht gezogen. Ist das nicht der Fall, wird der Personalbedarf gedeckt wie bisher. Es dürfte einigermaßen realistisch sein, dass das funktioniert. Schon heute wird mittels KDV de facto eine Vorentscheidung pro oder contra Dienst in der Bundeswehr getroffen. Wer tauglich gemustert ist und nicht verweigert hat, dürfte überwiegend einem Dienst in den Streitkräften aufgeschlossen, jedenfalls nicht strikt ablehnend gegenüberstehen. Diese positive Grundhaltung könnte durch eine Reihe von materiell mehr oder weniger unaufwendigen Anreizen verstärkt werden, zum Beispiel:

* Bonus beim Zugang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen,
* Erweiterung der Berufsförderungsdienstansprüche,
* Bafög-Vergünstigungen in Form eines Darlehenserlasses von ein oder zwei Semestern,
* Angebot eines Studiums an einer Bundeswehr-Universität unter Verzicht auf die Studiengebühr (abhängig von der Kapazitätsauslastung der jeweiligen Uni),
* Bevorzugung von ehemaligen Wehrdienstleistenden bei der Ausbildungsbewerbung (Empfehlungsschreiben KWEA an IHK/HWK),
* Wohnraumgestellung für wohnungssuchende ehemalige Wehrdienstleistende in Kasernen am jeweiligen Ausbildungsort (kapazitätsabhängig),
* Erwerb des Führerscheins (PKW/LKW/Gabelstapler) bei der Bundeswehr (verwendungsabhängig),
* Erhöhte Anrechnung von Wehrdienstzeiten als Beschäftigungszeit für die gesetzliche Rentenversicherung, ansteigend nach abgeleisteten Monaten,
* Berufsnahe Verwendung im Wehrdienst mit Anerkennung von Praktika für spätere Höherqualifizierung,
* Einbindung von Wehrpflichtigen während der Dienstzeit in das Flottenmanagement (Angebot der Wochenendanmietung eines PKW für Wehrpflichtige zu Sonderkonditionen).

Hier ist vieles denkbar und möglich. Die Attraktivitätssteigerung von GWDL/FWDL würde in einem überschaubaren Umfang zusätzliche Mittel binden – im Vergleich zu den Bemühungen einer vollständigen Personalrekrutierung über den Arbeitsmarkt (Anwerbeprämien, höheres Gehalt, Begleitmaßnahmen, Schlußprämie) wäre sie aber wohl vergleichsweise preiswert zu haben. Ab 2009 werden zudem die Jahrgänge, um die dann alle Arbeitgeber konkurrieren, deutlich schwächer.

Die Einberufungspraxis kann wie bisher flexibel gehandhabt werden. Zehntausend (freiwillige) Einberufungen mehr oder weniger gefährden Strukturen und Auftragserfüllung nicht. Zur Reduzierung des Personalersatzbedarfs kann auch das Dienstpostensoll zwischen GWDL (30.000) und FWDL (25.000) lageangepasst in beide Richtungen verschoben werden. Auch das ist Praxis. Zudem sollte freiwilligen jungen Frauen, die sich bei der Bundeswehr bisher für mindestens zwei Jahre verpflichten mussten, ein freiwilliges (variables) Dienstverhältnis im Umfang GWDL/FWDL angeboten werden. Wenn dieses Prinzip der subsidiären Wehrpflicht auf der Seite der Streitkräfte funktioniert, wird voraussichtlich die Zahl der Kriegsdienstverweigerer deutlich abnehmen. Diesen ist in jedem Fall ein Zivildienstplatz zur Verfügung zu stellen. Die Zivildienstplätze können in Zukunft materiell auch ausgestattet werden wie Plätze im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ/FÖJ).

Das Freiwillige Soziale Jahr könnte auch den Zivildienst alter Art vollständig ablösen. Es wäre zudem (wie bisher) offen für junge Frauen und für Wehrpflichtige, die nicht den Kriegsdienst verweigert, sich aber auch nicht freiwillig zur Ableistung des Wehrdienstes in der Bundeswehr haben ziehen lassen (oder obwohl freiwillig gemeldet in den Streitkräften nicht berücksichtigt werden konnten). Dies würde auch außerhalb der Bundeswehr eine deutliche Stärkung der Freiwilligenkultur bedeuten.

Im übrigen spielen Elemente der Freiwilligkeit bei der Ausgestaltung der allgemeinen Wehrpflicht schon heute eine oft übersehene wichtige Rolle: Reservisten werden in der Regel nur einvernehmlich zu Übungen oder zum besonderen Auslandseinsatz herangezogen; Zivildienst leisten üblicherweise tatsächlich diejenigen, die sich selbst individuell um eine Zivildienststelle kümmern; und die freiwillig länger Wehrdienstleistenden (FWDL) sind zum zusätzlichen, über 9 Monate hinausgehenden Teil ihres Dienstes nicht gegen ihren Willen eingeplant oder verpflichtet.

Wehrpflicht und neue Elemente der Freiwilligkeit dürften also in der Praxis gut vereinbar sein.

Herzliche Grüße,
Jörn Thießen