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Marieluise Beck
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Frage von Markus S. •

Frage an Marieluise Beck von Markus S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Beck,

Sie haben sich immer wieder verdient gemacht um ethnische Minderheiten und sind eine grosse Freundin einströmender Migration, wie ich Ihren Äusserungen entnehme.
Dazu einige Fragen:

1. Kommt in Ihrer Multi-Kulti-Vision eigentlich eine deutsche Komponente vor?

2. Interessiert Sie eigentlich, was das deutsche Volk will?

3. Haben Sie mal mit Frauen wie Alice Schwarzer und Necla Kelek gesprochen?

4. Wenn ja, ist Ihnen bekannt, was falsch verstandene Toleranz in unserem Land anrichtet?

5. Wissen Sie, dass hundertausende junger Türkenfrauen in Deutschland gegen ihren Willen zwangsverheiratet werden?

6. Können sie mir erklären, warum die Grundform eines Gesetzes dagegen (kürzlich im Bundesrat verabschiedet) aus einem CDU-regierten Bundesland kommen musste?

7. Was soll mit Integrationsveweigerern geschehen? Halten Sie eine Kürzung der Leistungen für Integrationsverweigerer für richtig?

8. Wissen Sie, dass die geringsten Probleme mit Einwandererkindern in Hessen sind?

9. Wissen Sie, dass dies an den verschärften Anforderungen der KM an die Sprachkenntnisse liegt?

10. Haben Sie schon mal mit Zuwanderern, speziell Kurden aus der Unterschicht gesprochen?

11. Halten Sie diese Menschen für kompatibel zu unserem Gesellschaftsentwurf einer freien Gesellschaft?

12. Wetten, Sie antworten wieder nicht, wie auch auf meine Mails vor einigen Jahren?

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Schlenk,

Ihre Fragen einzeln zu beantworten, würde wohl den Rahmen sprengen. Gehen Sie einfach davon aus, dass mir die von Ihnen angesprochenen Themen und Probleme wohl bekannt sind.

Unser Land hat sich zu einer Einwanderungsgesellschaft entwickelt. Wer politisch gestalten will, muss diese Realitäten anerkennen. Jedes vierte Neugeborene hat bereits ein Elternteil mit Migrationshintergrund, in den großen Städten kommen bis zu 40% der Jugendlichen aus Migrantenfamilien - mit steigender Tendenz. Nicht nur unsere Gesellschaft, auch die Migrantenbevölkerung selbst ist vielfältiger und ausdifferenzierter geworden. Längst handelt es sich nicht mehr um eine reine Gastarbeiterpopulation, auch in der ausländischen Wohnbevölkerung haben wir es mit einer zunehmenden sozioökonomischen Differenzierung von Lebenslagen, der sehr unterschiedliche kulturelle, religiöse und politische Orientierungen entsprechen. Kulturelle und religiöse Vielfalt werden deshalb das Leben in unserer alternden Gesellschaft von Generation zu Generation stärker kennzeichnen.

Dieser gesellschaftlichen Herausforderung kann eine Ausländerpolitik, die sich in erster Linie ordnungs- und sicherheitspolitisch versteht, nicht mehr gerecht werden. Weder mit sozialen Spezialangeboten für Migrantinnen und Migranten noch mit einer Politik, die sich allein um die Belange von Minderheiten kümmert, kann diesen Entwicklungen quantitativ und qualitativ begegnet werden. Unser Land steht vor der Aufgabe, sich selbst aufnahmefähig zu machen. Unsere gesellschaftlichen Institutionen wie Kindergärten, Schulen, Ausbildungsmarkt, Arbeitsmarkt, Krankenhäuser und Altersheime müssen in die Lage versetzt werden, mit diesen Herausforderungen produktiv umzugehen und sich interkulturell zu öffnen. Unsere Städte müssen um ihrer Zukunft als Standort willen Leitbilder einer Einwanderungsstadt entwickeln und implementieren, müssen ihre Quartiere zu Orten sozialer Integration machen. Und vor allem unser Bildungssystem muss den Umgang mit der wachsenden gesellschaftlichen Vielfalt lernen.

Integrationspolitik ist damit mehr als Ausländer- oder Minderheitenpolitik, auch mehr als Sprachförderung und Eingliederungshilfe. Integrationspolitik ist Gesellschaftspolitik in der Einwanderungsgesellschaft. Politische Handlungskonzepte müssen die Lebenssituation einer wachsenden Bevölkerung mit Migrationshintergrund regelmäßig und in allen Bereichen mit berücksichtigen. Integrationspolitik betrifft damit alle Politik- und Lebensbereiche und muss als Querschnittsaufgabe verstanden und verankert werden. Nach 50 Jahren Einwanderung muss die „conditio sine qua non“ der Integrationspolitik lauten: Einwanderer sind Teil dieser Gesellschaft, sie gehören selbstverständlich dazu.

Die Werte des Grundgesetzes und die darauf basierende Rechtsordnung, die Würde jedes einzelnen, die Gleichheit von Frau und Mann, die Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit sind die Geschäftsgrundlage, auf der Integration stattfindet. Sie stehen nicht zur Disposition, auch nicht im Namen einer Religion oder Kultur. Pluralität macht die Verständigung über gemeinsame Werte und Regeln nicht einfacher, aber umso nötiger. Das moderne Deutschland ist keine Gesellschaft mit einer geschlossenen, homogenen Kultur. Ein Missverständnis wäre aber auch zu glauben, „Multikulturalität“ sei schon ein Konzept, das den Zusammenhalt in dieser Gesellschaft herstellen könne. Multikulturalität ist eine Tatsache, Integration ist eine Aufgabe. Das Leitbild für unser Zusammenleben ist eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung. Allzu oft folgt der gesellschaftliche Diskurs noch der Fiktion einer kulturell homogenen Gemeinschaft. Das pluralistische und demokratische Selbstverständnis will aber immer neu vermittelt sein, um gesellschaftlichen Zusammenhalt und Konsense zu gewährleisten. Wir brauchen daher eine Politik der Einbürgerung, die auf den gleichberechtigten und selbstbestimmten Bürger setzt, aber auch ein Identifikationsangebot mit dem pluralistischen und demokratischen Leitbild und den Werten unserer Gesellschaft macht. Nur wenn wir Einheimische wie Zugewanderte von den Werten unserer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft überzeugen und Ungleichheitsideologien entschieden entgegentreten, kann sich eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung entwickeln.

Verständigung und Integration erfordert eine gemeinsame Sprache. Der
Erwerb der deutschen Sprache ist eine wichtige Grundvoraussetzung, um
den Weg in unsere Gesellschaft gehen zu können.

Jenseits dieser Grundvorrausetzungen bleiben Fragen zu klären: Wie viel darf und muss eine aufnehmende Gesellschaft den Neuhinzugekommenen an Anpassung abverlangen? Welche Werte und Normen sind für den Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft so unverzichtbar, dass sie nicht zur Disposition gestellt werden? Wie viel Differenz und Verschiedenheit muss den Einwanderern und Einwanderinnen zugestanden werden? Welche Veränderungen und Öffnungen sind seitens der aufnehmenden Gesellschaft nötig? Einig sind wir uns in der Bekämpfung von Fundamentalismen wie dem wahnsinnigen Vorhaben des Metin Kaplan, auf Kölner Boden einen Gottesstaat zu errichten, im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsheiraten, so genannten Ehrenmorden oder Genitalverstümmelungen. Für Menschenrechtsverletzungen kann es keinen kulturellen Rabatt geben. Schwieriger zu bewerten ist aber das Verhältnis von unhinterfragten Werten und dem Recht auf Verschiedenheit in vielen Grenzbereichen: Wie sehen wir das Recht auf rituelles Schächten im Verhältnis zum Tierschutz? Wie verhält sich das Recht auf religiöse Freiheit gegenüber emanzipatorischen Werten der Gleichheit von Frau und Mann? Ist das Kopftuch als religiöses oder als politisches Symbol zu sehen?

Moderne Gesellschaften sind pluralistisch. Diese Pluralität hat sich durch Einwanderung noch verstärkt. Mit den Menschen aus oft ländlichen, manchmal archaisch geprägten Strukturen wanderten auch Konflikte in die hiesigen städtischen Gesellschaften, die überwunden geglaubt schienen. Die Kluft zwischen Tradition und Moderne stellt uns erneut vor Fragen, auf die wir nicht erst angesichts von Einwanderung unterschiedlich nuancierte Antworten haben. Wir sollten uns jedoch vergegenwärtigen, dass sich auch unser Weg in die Moderne nicht ohne Konflikte und Brüche vollzog: noch in den 60iger Jahren war ein unehelich geborenes Kind eine Schande, Homosexualität stigmatisiert, unverheiratetes Zusammenleben als "wilde Ehe" diskriminiert, eine interkonfessionelle Heirat für viele Familien eine Katastrophe und die Jungfräulichkeit der Töchter ein hohes Gut. Bruchlinien zwischen Tradition und Moderne verschärfen nicht nur die Konflikte zwischen Einwanderern und aufnehmender Gesellschaft, sondern auch unter den Migranten. Besonders junge Frauen bekommen dies zu spüren, wenn sie sich aus traditionsgebundenen Familien auf den Weg in die moderne, städtisch geprägte Gesellschaft machen. Bereitschaft zum Aushandeln von Konsensen braucht nicht nur die aufnehmende Gesellschaft. Auch die Migrantencommunities und Familien müssen ihren Mitgliedern ein selbstbestimmtes Leben gestatten.

Migrantinnen brauchen unsere Unterstützung. Sie werden häufiger Opfer familiärer Gewalt und geraten oft in den Konflikt zwischen den Wertvorstellungen ihrer konservativen, patriarchal geprägten Familien und ihrem Wunsch nach Teilhabe in der modernen Gesellschaft. Mit der Einführung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts, mit der Strafverschärfung bei Zwangsverheiratung und dem Gewaltschutzgesetz haben wir die Rechte der Frauen gestärkt. Durch gezielte Aufklärungsarbeit in und mit den Migrantencommunities müssen Migrantinnen über ihre Rechte informiert werden. Weitere gesetzliche Änderungen, vor allem eine aufenthaltsrechtliche Rückkehrperspektive für Opfer von Zwangsheirat, sind nötig. Wir müssen dabei den Fokus auf den Opferschutz legen. Einschränkungen des Ehegattennachzugs, wie ihn jetzt die Innenminister fordern, werden Zwangsehen kaum verhindern, sondern die Rechte von Frauen und Familien beschneiden. Letztlich hängen die Möglichkeiten, sich aus ungewünschten Abhängigkeiten befreien zu können, wesentlich von Bildung, eigenen Erwerbsmöglichkeiten und gesellschaftlichen Teilhabechancen ab. Doch gerade bei jungen Migrantinnen ist die Kluft zwischen den erwiesenermaßen hohen Bildungswünschen und den erreichten Berufsabschlüssen groß. Statt weiterhin viele Mädchen und junge Frauen auf unqualifizierte Tätigkeiten oder den häuslichen Bereich zu verweisen, müssen wir die Potenziale der Migrantinnen, die die Gesellschaft dringend braucht, nutzen und Einstiege in ein qualifiziertes Berufsleben fördern.

Ich hoffe, hiermit wenigstens auf einige ihrer Fragen Antworten gegeben zu haben.