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Frage von Martin B. •

Frage an Christoph Strässer von Martin B. bezüglich Finanzen

Sehr geehrter Herr Strässer,

es wird in den Medien berichtet, das der Deutsche Bundestag am 29.06.2012
über den ESM Vertrag berät und abstimmen soll.

Meine Frage: Wie werden Sie abstimmen ? Bitte begründen Sie dies auch Ihren Entschluss.

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Sehr geehrter Herr Brinkmann,

vor einiger Zeit haben mich Bürgerinnen und Bürger angeschrieben und mich aufgefordert, bei der Abstimmung zu Fiskalpakt und ESM gegen diese Gesetzentwürfe zu stimmen. Die Ergebnisse der Verhandlungen in Brüssel haben mich dann jedoch trotz weiter bestehender erheblicher Bedenken und erkennbarer Risiken in beiden Fällen zu einer Zustimmung gebracht.

Warum ich den Umsetzungsgesetzen zum ESM und zum Fiskalpakt zugestimmt habe:

Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung waren angesichts der dramatischen Krisen nicht ausreichend, oft kontraproduktiv, kamen zu spät, waren zu schwach und diplomatisch schlecht vorbereitet. Viele Maßnahmen hätten Teil einer komplexen Lösung sein können, deshalb habe ich auch vielem zugestimmt, leider sind die Lösungsansätze der Kanzlerin in Unterkomplexen stecken geblieben.

Im Ergebnis geraten die Menschen vieler Länder unter extremen Druck. Die Gewinne Weniger steigen noch immer, Arbeitslosigkeit, insbesondere Jugendarbeitslosigkeit, und Armut Vieler nehmen zu. Verantwortungsloser Umgang mit hohen Risiken im Privaten - Banken, Schattenbanken, Fonds, „Akteure“ im Finanzmarkt - hilft, Einzelne zu bereichern. Zu oft müssen aber die exorbitanten Verluste von Steuerzahlern übernommen werden.

Mit dieser Erfahrung hätte ich weder dem nackten Fiskalpakt noch dem nackten ESM zustimmen können. Wieder hat die Regierung Merkel vergessen, dass Sparen allein in der Krise kein Lösungsansatz sein kann. Nicht einmal zur Senkung der staatlichen Neuverschuldung. Wenn die Arbeitslosigkeit steigt und das Wirtschaftswachstum schwächelt, muss Sparen allein in die Rezession führen. Und in Deutschland? Hätten wir nach der Pleite von Lehman Brothers Inc. so agiert, wie die Kanzlerin nach der Griechenland-Pleite - Arbeitslosigkeit und Wachstum wären auch hier ein riesiges Problem. Aber in Deutschland haben wir nicht in die Rezession gespart, sondern mit dicken Konjunkturprogrammen, der Abwrackprämie und der richtig teuren Kurzarbeiterregelung über die Krise geholfen. In diesen Erfolgen - und wer sich erinnert, denkt an Steinbrück, Steinmeier und Olaf Scholz - sonnt sich heute die Kanzlerin.

Wer bei Haushaltssanierung nur an die Ausgabenseite denkt, ist Teil des Problems. Zur Lösung gehört auch die Einnahmeseite . Natürlich sollen jene, denen es vor, während und in den Krisen, womöglich noch durch die Krisen, besonders gut gegangen ist, sich auch an deren Bekämpfung beteiligen. Ich denke an gerechte Steuern, aber noch viel mehr an die Beteiligung derjenigen, die durch ihre Spekulation mit dem Geld anderer Menschen, die Krise ausgelöst und ihre Verschärfung zu verantworten haben. Die Bundesregierung hat es immer noch nicht geschafft, eigentlich auch nicht ernsthaft versucht, diese verschiedenen losen Regulierungsstränge in die Hand zu nehmen und zu einer integrierten Strategie zur Überwindung der europäischen Schulden- und Finanzkrisen zu verknüpfen. Wir brauchen aber eine Gesamtperspektive für den Finanzmarkt mit unterschiedlichen Werkzeugen, die zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Stellen ansetzen und zusammenwirken.

Wer in einem virtuellen Spekulationsmarkt mit über 700 Billionen US-$ Risiken eingeht, der darf nicht erwarten, dass jene Menschen, die reale Werte schaffen (weltweit ca. 70 Billionen US-$) und Steuern bezahlen für die Fehlspekulationen im „Invest“mentbanking aufkommen. Das oberste Gebot ist es, Risiko und Haftung, Entscheidung und Verantwortung wieder zu verknüpfen. Wie schwer sich CDU/CSU und FDP damit tun - ob es um Bankenabgabe oder Finanztransaktionssteuer geht, ob um Wachstumsimpulse für Europa oder ein Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit - immer war es ein langer Kampf, die Regierung und die Regierungskoalition von solchen Maßnahmen zu überzeugen. Im Regelfall war es ein sicheres Zeichen, dass die Vorschläge der SPD Fraktion zur Regulierung der Märkte etc. zunächst abgelehnt wurden, um sie dann doch zu akzeptieren. Mit dieser Regel können wir getrost darauf warten, bis Kanzlerin Merkel und im Gefolge auch die CDU/CSU/FDP-Regierungskoalition den vom Sachverständigenrat empfohlenen Altschuldentilgungsfonds, Eurobonds und ein Trennbankensystem akzeptieren werden. Schade nur, dass solche Zick-Zack-Manöver den Weg zur Krisenbewältigung verlängern, komplizierter machen und auch teurer.

Auch mit Blick auf diese Erfahrungen wären weder Fiskalpakt noch ESM allein zustimmungsfähig gewesen. Aber dürfen wir wirklich das Schicksal Europas von einer Kanzlerin auf Zick-Zack-Kurs im Unterkomplexen abhängig machen?

Zum Fiskalpakt:

Für den Fiskalpakt habe ich eine schöne Beschreibung gelesen: Das Haus brennt lichterloh, es sollte eilig gelöscht werden - stattdessen nimmt man sich mit dem Fiskalpakt vor, künftig nicht mehr mit dem Feuer zu spielen. In einigen Zuschriften wird die Sorge geäußert, mit dem Fiskalpakt, also der Schuldenbremse in Europa, könnten die Zwangskräfte zum Sparen so groß werden, dass die sozialen Sicherungssysteme unter Druck geraten, Armut und Altersarmut in hoch verschuldeten Ländern zunehmen könnten. Deshalb wurde empfohlen, den Fiskalpakt abzulehnen. Das ist zu verstehen und diese Gefahr ist m.E. nicht zu leugnen. Eine überbordende Staatsverschuldung jedoch kann und hat im Regelfall ähnliche Effekte, und wie wir in Griechenland gesehen haben, gibt es einen Punkt der Staatsverschuldung, der das Gesamtsystem über Nacht in die Insolvenz treiben kann. Ob mit oder ohne Fiskalpakt (Schuldenbremse hinsichtlich der strukturellen Verschuldung), eine solche Entwicklung muss vermieden werden.

Dabei führt uns die ausschließliche Betrachtung der Staatsverschuldung an den Ursachen der Krisen vorbei. Peer Steinbrück hat es so formuliert: „In diesem Zusammenhang gilt es darauf hinzuweisen, dass keinesfalls nur Staaten mit hoher Verschuldung Probleme mit der Refinanzierung ihres Staatshaushaltes haben. Bis zur Finanzkrise hatten Spanien (2008: 40,2 %) und Irland (2008: 44,2 %) deutlich geringere Schuldenquoten als Deutschland (2008: 66,7%). Die notwendigen Rettungsmaßnahmen im Zuge der Bankenkrise und die Bewältigung der Konjunktureinbrüche im Anschluss daran tragen einen erheblichen Anteil an den Refinanzierungsproblemen in einigen EU-Staaten. Die Schuld für die aktuelle Krise einseitig den nationalen Regierungen anzuheften, geht also fehl.“

Insgesamt ist es also fallweise viel wichtiger, sich um die Regulierung der Banken und des Finanzplatzes zu kümmern und darum die „reine“ Spekulation ohne Beitrag zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung einzudämmen.

In seinen grundsätzlichen Wirkungen entspricht der Fiskalpakt der Schuldenbremse, wie sie in der deutschen Verfassung verankert ist.

Ärgerlich, weil nichts anderes als eine primitive taktische Variante der Kanzlerin ihre eigene Regierungskoalition in Schach zu halten und jene in der CDU/CSU und FDP „einzubinden“, die den Fiskalpakt aus allgemeiner Europaskepsis ablehnen wollen, war die Forderung, den Fiskalpakt mit einer 2/3 Mehrheit zu ratifizieren. In den Anhörungen des Bundestages wurde deutlich, dass der Fiskalpakt als „völkerrechtlicher Vertrag“ einfachgesetzlich, also mit einfacher Mehrheit hätte ratifiziert werden können, also ohne das Erfordernis einer 2/3 Mehrheit. Damit wurde auch das Kalkül der Bundesregierung deutlich, durch die Wahl des Abstimmungsverfahrens eine Unabänderlichkeit der Regelungen zur Schuldenbremse (Art. 109, 115 und 143d GG) zu konstruieren und damit den Verfassungsgeber für die Zukunft zu binden. Bei einigen Kolleginnen und Kollegen führt dieser unangemessene Übergang zu einer „neuen Staatspraxis“ mit all seinen verfassungsrechtlich nicht unbedenklichen Konsequenzen zur Ablehnung des Fiskalpakts.

Pikant ist, dass der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister der Finanzen in seinem jüngsten Gutachten Kritik am Fiskalpakt und am sogenannten EU-Sixpack übt, weil praktisch kein Land in Europa den erforderlichen Abbau der Staatsverschuldung aus eigener Kraft schaffen kann. Darin sieht der Beirat ein Glaubwürdigkeitsproblem mit Rückwirkungen auf den Finanzmarkt. Zur Erinnerung: Das Europäische Parlament hat am 28. September 2011 das sogenannte EU-Sixpack von EU Währungskommissar Olli Rehn - Regeln zur Haushaltskontrolle und ein neues Verfahren gegen wirtschaftliche Fehlentwicklungen - mit den Stimmen der Konservativen und der Liberalen beschlossen. Sozialdemokraten stimmten dagegen, weil einseitiges Sparen ohne Wachstumskomponente schnell zu sozialen Verwerfungen führen kann. Nun haben wir also das Sixpack in Europa ohne Beteiligung der nationalen Parlamente. Der Fiskalpakt hat inhaltlich einen großen Durchschnitt mit dem Sixpack. Den Fiskalpakt im Deutschen Parlament abzulehnen wäre in dieser Hinsicht ein Symbol, denn auch ohne Fiskalpakt gelten die meisten seiner Regeln schon durch das Sixpack

Zum ESM - dem Europäischen Stabilitätsmechanismus

In Folge ihrer reflexartigen Verweigerungshaltung gegenüber sozialpolitischen, qualitativ wachstumsorientierten und finanzmarktregulatorischen Vorschlägen, hatte die Kanzlerin stets nur eine Idee zur Lösung der Krisen. Geld. Das liest sich dann als EFSF Garantien über 780 Milliarden Euro, EZB Ankäufe in Höhe von 220 Milliarden Euro, IWF Garantien im Wert von 250 Milliarden Euro, bilaterale Kredite über 110 Milliarden Euro, ESF Garantien in einem Volumen von 700 Milliarden Euro, davon 80 Milliarden Euro Barmittel..

Die soziale Situation - Sozialunion, Bekämpfung der Armut, Überwindung der Arbeitslosigkeit, Wirtschaftsförderung, Wirtschaftsunion und Konjunkturstimulation, Aufbau von Infrastruktur und Verwaltung, speziell Steuerverwaltung in Ländern mit Vollzugsdefiziten - kein Gedanke. Es wurden Geld und Bürgschaften an EU Mitgliedsländer gegeben, die den Ländern, also den Menschen nicht helfen konnten, wurden sie doch benötigt, um die Gläubiger - Spekulanten, Schattenbanken, aber auch öffentliche und private Banken, Versicherungen, etc. - der Mitgliedsländer zu befriedigen. Und warum? Weil der Eiertanz um die Beteiligung der Verursacher der Krisen - Haircut - so lange andauerte, bis sich viele private Institute von vielen Staatsanleihen, mit denen zuvor spekuliert wurde, getrennt hatten. Erst sehr spät, zu spät und in zu geringem Umfang wurden auch Spekulanten, Investmentbanken etc. durch einen freiwilligen Forderungsverzicht am Schuldenabbau von z.B. Griechenland beteiligt. Inzwischen war aber schon die EZB ohne jede demokratische Kontrolle oder Beschlussfassung zu einem riesigen Gläubiger geworden. Um zu verhindern, dass der Markt, über den sich Länder Geld besorgen, zusammenbricht, hat die EZB für 220 Milliarden Euro Staatsanleihen gekauft und für eine Billion Liquidität zur Verfügung gestellt. Eine Notoperation als Ersatz für Handlungsausfälle nationaler Regierungen mit zweifelhafter Legalität - aber wenn es brennt, wird nicht gefragt, aus welchem Eimer das Löschwasser stammt. Für diese Ankäufe und Risiken der EZB haften natürlich die Anteilseigner der EZB, den größten Anteil hat die Deutsche Bundesbank mit 21 %. Solche Verwerfungen sind eine Konsequenz aus der Wankelmütigkeit einer Kanzlerin mit dem Image der „Eisernen Lady“. Und wir sollten diesen deutschen Haftungsanteil an den Anleihekäufen des Eurosystems auch im Hinterkopf behalten, wenn die Bundeskanzlerin wieder einmal Eurobonds ablehnt.

Inzwischen ist die Kanzlerin umgefallen. In die richtige Richtung, um von der SPD und den Grünen die Stimmer für eine 2/3 Mehrheit zu erhalten. Eine Mehrheit, die sie m.E. taktisch forderte, weil die Beteiligung der Opposition verhindert, das die Regierungskoalition auseinanderfliegt . Der ESM und der Fiskalpakt werden also allein - nackt - nicht kommen. Mit Wachstumsprogrammen, mit der Finanztransaktionssteuer und Programmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit - mehr ist auf der Website der SPD Fraktion zu finden - werden der Fiskalpakt und der ESM in ein soziales und wirtschaftspolitisches Konzept eingebettet, das die Hoffnung nährt, wir könnten Europa so aus der Krise winden. Aber das geht nicht über Nacht, und selbst mit den jetzigen Maßnahmen haben wir keine Erfolgsgarantie, die Krisen zu überwinden. Wichtige Instrumente - insbesondere solche, die den Staaten unter größtem Druck mehr Zeit geben - fehlen noch. Mir fehlt es allerdings auch noch an Verbindlichkeit der Zusagen, dass die Vorschläge der SPD Fraktion seitens der Regierung auch realisiert werden.

Und mich ärgert, dass viel zu früh der Eindruck entstanden ist, die SPD Fraktion werde sowieso zustimmen. Dadurch konnte die Kanzlerin den Eindruck erwecken, sie habe ja schon immer Wachstumsimpulse setzen wollen, schon immer Jugendarbeitslosigkeit im Blick gehabt, schon immer die Finanztransaktionssteuer gewollt, schon immer die Finanzmärkte und Finanzprodukte regulieren wollen, und dann füge ich zum besseren Verständnis dieser Kanzlerinnenlogik auch noch hinzu: schon immer die Atomkraftwerke abschalten und die Wehrpflicht abschaffen wollen. So gibt es fachliche, taktische und politische Gründe, die es der Opposition noch schwerer gemacht haben, dem ESM zuzustimmen.

Ich zitiere nochmal Peer Steinbrück: „Auch ich habe bei den Beschlüssen, die die deutschen Steuerzahler in Mithaftung für die aktuelle Krise nehmen, Bauchschmerzen. Sollte die eingeschlagene Strategie, mit den Finanzhilfen eine Stabilisierung und Konsolidierung der Staatshaushalte in den betroffenen Ländern zu erreichen, scheitern, wird der deutsche Bundeshaushalt ohne Frage in erheblichem Maße belastet.

Im konkreten Fall des ESM habe ich diese Bauchschmerzen jedoch nicht. Denn: Im Vergleich zu den aktuellen Rettungsmaßnahem stellt er eine deutliche Verbesserung dar. Der ESM überführt die provisorischen Rettungsschirme in eine dauerhafte Institution und bietet damit auch einen sicheren Rahmen für die Konditionierung weiterer finanzieller Hilfen. Aus dem hektisch entworfenen provisorischen EFSF wird eine dauerhafte Institution, die - ähnlich dem IWF - Staaten auf dem Weg zu einer soliden Finanzpolitik langfristig begleitet. Der ESM kann harte Auflagen und Bedingungen für die betroffenen Länder vereinbaren, aber auch Wachstum befördern. Der ESM kann notleidenden Staaten Darlehen gewähren oder deren Staatsanleihen aufkaufen“. Soweit das Zitat.

Ärgerlich sind Kampagnen, die auf einen ernsthaften Abwägungsprozess in pro und contra verzichten und mit halben oder falschen, weil aus dem Kontext herausgelösten Textfragmenten aus Vertragsentwürfen zitieren, um vielen Menschen Angst zu machen. Sie formulieren dann nicht einmal einen eigenen Satz - obwohl sie so sehr betroffen sind - und klicken sich via copy und paste zu einer Massenmail an hunderte Abgeordnete, oft ohne Absender, vielleicht sogar als Alias, also anonym, und glauben ernsthaft, das würde Entscheidungsprozesse beeinflussen.

So erhielt ich auch ein Youtube-Video, Lobbyarbeit von „Abgeordnetencheck.de“ . Ich möchte nur auf einen Aspekt eingehen, um Sie zu ermutigen, an dem Video zu zweifeln. Wir bekommen dort den Eindruck vermittelt, der Gouverneursrat könne bedingungslos und unwiderruflich Geld in beliebiger Höhe abrufen? Na ja: aber nur insoweit zuvor genehmigt und insoweit die genehmigte Summe noch nicht abgerufen. Abgesehen davon kann überhaupt nur abgerufen werden, wenn der deutsche Vertreter zustimmt. Er hat also eine Vetomöglichkeit... im Video klingt das doch sehr verschieden... aber Abgeordnetencheck schickt seine User recht häufig auf den Pfad der Massenpost, der gestohlenen Betroffenheit, der halbseidenen Informationen... wenn ich dann die Leute anrufe, sind sie oft recht peinlich berührt und können die "Argumente" der Plattform nicht verteidigen, fühlen sich hinters Licht geführt.

Tatsächlich gilt gemäß Artikel 9 Absatz 3 des ESM-Vertrages, dass der geschäftsführende Direktor Kapital von den Mitgliedsstaaten abrufen kann. Wie gesagt, sofern bereits vom Deutschen Bundestag als zugesagt beschlossen und noch nicht abgerufen. Eine Ausweitung des Rettungsschirmes über die vereinbarte Summe hinaus erfordert nach Art. 10 Abs. 1 des ESM-Vertrages die erneute Entscheidung des Bundestages. Hinzu kommen die bisher festgelegten Volumina aus dem deutschen Anteil der EFSF und der Kredite aus dem Griechenland-Hilfspaket.

Der Gouverneursrat ist auch nicht ganz so frei, wie über manche Onlineplattformen verbreitet. Der ESM, der Notkredite und Bürgschaften zur Verfügung stellt, beruht auf einem völkerrechtlichen Vertrag und braucht nach GG Art 59/2 als Grundlage ein innerstaatliches Zustimmungsgesetz. In diesem Gesetz ist die Parlamentsbeteiligung dadurch gegeben, dass die Richtlinien, die der Gouverneursrat erlässt vom Haushaltsausschuss des Bundestages kontrolliert werden. Wenn wir bedenken, dass es hier um Wirkungen und Rückwirkungen mit fast 30 Staaten geht, wird schnell deutlich, wie kompliziert die Abstimmungsprozesse sein werden.

Oder nehmen Sie die Behauptung, der Gouverneursrat sei ein übermächtiges, durch nicht zu bremsendes, fast anonym besetztes Gremium. Starke Worte im Video. Aber der Gouverneursrat sind einfach die Finanzminister; sie müssen alle wichtigen Entscheidungen zunächst in ihren Heimatparlamenten behandeln oder verabschieden. Yasmin El-Sharif schreibt bei Spiegel Online: „Ohne Bundestag gibt es auch keinen Rettungsmechanismus“. Deshalb ist auch um die Souveränität der Mitgliedsländer auch mit ESM gut bestellt.

Auch die angeprangerte Immunität und Unantastbarkeit verlieren ihren Schrecken, wenn wir bedenken, dass es ohne unser Parlament, ohne nationales Recht , auch keinen ESM geben könnte. Und auf dem gleichen Weg könnten wir ihm seine Existenz wieder nehmen, wenn es nicht mit rechten Dingen zugeht.

Der „ESM- Gouverneursrat“ klingt so europäisch. Der Gouverneursrat besteht aus den Finanzministern der Mitgliedsstaaten. Und die Finanzminister sind natürlich gegenüber ihren nationalen Parlamenten und Regierungen rechenschaftspflichtig. Außerdem gelten entweder Einstimmigkeitsprinzip oder Mehrheitsanforderungen von 85 %, sodass der deutsche Finanzminister stets ein Vetorecht hat. (Artikel 5 ESM Vertrag). Mich ärgert dabei, wie schon im Verhältnis zur Kommission und zum Rat, dass wir bestimmte Kompetenzen abgeben - nicht an das Europäische Parlament, sondern an Verwaltungsinstitutionen, an den Beamtenapparat. Hier sind Kompetenzverschiebungen in Richtung Parlament, in Richtung Demokratie sehr wichtig.

Am Freitag erhielt ich eine Postkarte von attac: „Ermächtigungsgesetz 2.0“. Dort wird das Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1933 in Beziehung gesetzt mit der Entscheidung über den ESM. Zur Postkarte gibt es ein Begleitschreiben, das ähnlich fragmentarisch wie das oben erwähnte Video, den ESM kritisiert. Und attac wird „das Abstimmungs-Verhalten jedes einzelnen Abgeordneten veröffentlichen…“. Ich bin viele Jahre Mitglied bei attac, weil ich schon immer eine Finanztransaktionssteuer befürwortet habe und es für richtig halte, die Mittel aus dem Ertrag hieraus im Wesentlichen für die Armutsbekämpfung in der Welt einzusetzen. Mit der SPD hatte attac ja nun auch einen Erfolg in dieser Hinsicht. Abgesehen davon, dass das Abstimmungsverhalten im Bundestag sowieso öffentlich ist und es nicht attac bedarf um hier Transparenz herzustellen, ist bemerkenswert, dass bei attac selbst irgendwelche Arbeitsgruppen, Angestellte oder wer auch immer, ohne jegliche demokratische Rückbindung Kampagnen fahren, von denen völlig unklar ist, in wessen Interesse, in wessen Auftrag und wie finanziert? Als Mitglied frage ich attac, wer diese Leute eigentlich ermächtigt hat, mir solche Postkarten zu schicken? Besonders infam wird die Kampagne auch deshalb, weil andere Länder den ESM schon beschlossen bzw. ratifiziert haben.

Leider sind manche Menschen nicht bereit, eine abweichende, wenn auch begründete Entscheidung anzuerkennen, und werfen mir in Mails der vergangenen Tage sogar „Hochverrat“ vor oder drohen mir ihre „Verachtung“ an, für den Fall, dass ich ihre Ablehnung des ESM nicht teile. Es wird zwar die Freiheit des Mandats beschworen, an die Idee des unabhängigen Volksvertreters erinnert, die Verpflichtung auf das Grundgesetz oder „nationale Interessen“ eingefordert… - aber wehe, der Abgeordnete ist anderer Ansicht.

Und auch die ernsthafte Auseinandersetzung vieler Bürgerinnen und Bürger mit Fiskalpakt und ESM, die ihre Bedenken über die Abgabe von Souveränitätsrechten, ihre Sorgen um den Zusammenhalt in Europa, ihre Kritik an der vermeintlichen Kritiklosigkeit „der“ Abgeordneten zum Ausdruck bringen, werden dadurch entwertet, gehen im Strom der Massenmails und Kampagnen fast unter.

Wenn ich Ihnen einen längeren Brief schreibe, soll dies auch auf eine Entwicklung hinweisen, die ich mit Sorge betrachte. Wir - damit meine ich mich, Sie, „die“ Politik, „die“ Medien, eigentlich uns alle - erziehen uns selbst und andere zu kurzen, knappen, (zu) einfachen Botschaften nach dem Motto: „Ich stimme zu, weil…“; manchmal müsste es aber richtigerweise heißen: „Ich stimme zu, obwohl…“ - diese Abwägung kriege ich nicht in drei Zeilen unter. Eine Meinung zu haben, ist meines Erachtens mehr als Ja oder Nein sagen zu können. Genauer über Zusammen­hänge, Hinter­gründe, Ziele nachzudenken, kann nicht schaden, auch wenn ich am Ende vielleicht trotz­dem „nur“ zu einem Ergebnis komme, das nicht gut, aber besser als die Alternativen ist.

Nachdem die Verfassungsressorts von der Verfassungsfestigkeit des ESM Ratifizierungsgesetzes und der weiteren Begleitgesetze überzeugt sind, es aber gleichwohl Klagen vor dem Bundesverfassungs­gericht geben soll, ist es gut, dass der Bundespräsident mit seiner Unterschrift unter die Gesetze noch warten will. Verfassungswidrigkeit oder Verfassungskonformität wird vom Verfassungsgericht festgestellt und liegt nicht im Ermessen des Parlaments, das nach bestem Wissen und Gewissen über Gesetze entscheidet.

Leider reduzieren die Absender von Massenschreiben, auch einige Bürger die individuell nachfragen, Europa auf eine rein monetäre Angelegenheit. Das kommt ein wenig geschichtsvergessen daher und verdrängt die enorme Bedeutung Europas für 60 Jahre Frieden, die Überwindung der Deutschen Teilung und die Entwicklung stabiler Demokratien.

Mit Blick auf diese Bedeutung Europas und mit Blick auf die Bedeutung Europas für Deutschland stimme ich dem Fiskalpakt und dem ESM zu. Meine diesbezüglichen Zweifel sind deutlich geringer als bei einer Ablehnung, deren langfristigen Konsequenzen heute nicht abschätzbar sind.

Weitere Überlegungen und Informationen

Ich glaube, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ein wichtiger Baustein zur Lösung der Finanzkrisen sein kann. Der ESM ist ein wichtiger Abschnitt der „Brandschutz­mauer“, die wir in Europa errichten, um wichtige Bereiche unserer Volks­wirtschaften, Banken und Versicherungen, ganze Staaten, letztlich die Steuer­zahlerinnen und Steuerzahler vor den Brandherden auf den Finanzmärkten in Europa abschirmen zu können.

Die im Grundsatz richtige Bereitschaft, einem Staat in Notlage solidarische Finanzhilfe zu leisten, erzeugt für den deutschen Steuerzahler das Risiko, Geld zu verlieren - ein Kredit wird vielleicht nicht zurückgezahlt, die Besicherung eines Darlehens kann in An­spruch genommen werden. Kreditrisiken lassen sich nur dann vollständig vermeiden, wenn man keine Kredite vergibt - also kein Euro für Griechenland, und am besten auch gleich ganz raus aus dem Euro…! So einfach scheinen diejenigen Bürger, Populär­wissenschaftler und Lobbyisten zu denken, die uns auf­fordern, den ESM einfach, d.h. alternativlos abzulehnen. Aber was ist die Alternative? In keiner einzigen Zuschrift gab es konkrete realistische, also realisierbare andere Lösungsvorschläge, in keiner Zuschrift wurden die Kosten bzw. der Preis der Ablehnung be­schrieben. Alle mir bekannten Alternativen, Griechenland, Portugal, Irland, vielleicht Spanien und Italien… nicht zu helfen bzw. die Einrichtung eines dauer­haften Hilfsfonds abzulehnen, wären für Deutschland und Europa nicht nur finanziell mit unberechenbar hohen Kosten verbunden; darüber hinaus wäre auch ein politisch unverantwortlich hoher Preis zu zahlen. Das Risiko einer Zustimmung ist abschätzbar, eine Ablehnung ist hingegen unkalkulierbar.

In den vergangenen Jahren musste ich im Verlauf der Finanzkrisen lernen, dass es zu Situationen kommen kann, in denen schnelle Entscheidungen erforderlich sind, über das Wochenende Beschlüsse getroffen werden müssen, bevor Börsen eröffnen und Volkswirtschaften kollabieren; dass sich krisenhafte Entwick­lungen in kürzester Frist zu akuten Notlagen verdichten können, in denen wir „in den Abgrund blicken“, wie es mit Blick auf den Untergang der Invest­ment­bank LehmanBrothers einmal formuliert wurde. Ich konnte mir solche Entwicklungen vor einigen Jahren nicht vorstellen, und unsere demokratischen Verfassungen auf nationaler und internationaler Ebene waren darauf nicht angemessen vorbereitet. Sie sind es wohl immer noch nicht, können es vielleicht auch nicht in einem Umfang sein, der unseren demokratischen Standards und Gewohnheiten in vollem Umfang entspricht.

Finanzmärkte handeln um ein Viel­faches schneller als Parlamente beraten - ein Dilemma, das wir nicht auflösen können; wir müssen daher auch über neue, schnellere Verfahren der Entscheidungs­findung nachdenken. Ich wünsche mir solche Notfall-Situationen nicht, aber ich bin froh, wenn wir uns darauf vorbereiten; und ich kann keine besseren Regeln als die formellen ESM-Entscheidungsverfahren erkennen - wohl gemerkt: besser, nicht unbedingt gut. Förm­liche Beschlussverfahren für Stresszeiten innerhalb einer auf Dauer gestellten Ein­richtung wie dem ESM sind Teil der übergeordneten politischen Strategie, verlässliche Notfall-Mechanismen und hohe Brandschutzmauern (Fire Walls) für Notlagen zu schaffen.

Hier soll uns künftig der ESM dabei helfen, die wechselseitigen Ansteckungskanäle zwischen Staaten und Banken, Staaten und Staaten, Banken und Banken zu verstopfen: Staaten müssen ihre Banken retten und verschulden sich dafür; Banken halten Staatsanleihen dieser Länder und befürchten den Zahlungsausfall wegen Überschuldung - also leihen sie kein Geld mehr oder nur noch gegen horrende Zinsen; Banken misstrauen anderen Banken, von denen sie nicht wissen, ob und wie viele Staatsanleihen ausfallgefährdeter Staaten diese im Portfolio halten - also leihen sich auch Banken untereinander kein Geld mehr oder nur noch gegen horrende Zinsen…

Der ESM kann hier auf unterschiedliche Arten eingreifen: er kann Staaten Geld zur Rekapita­lisierung angeschlagener Banken zur Verfügung stellen; er kann die Ausgabe von Staatsanleihen besichern, Verluste von Anleihegläubigern übernehmen und damit deren Bereitschaft erhöhen, einem verschuldeten Staat Geld zu leihen; er kann einem Staaten (am sog. Primärmarkt) oder seinen Kreditgebern (am sog. Sekundärmarkt) Anleihen abkaufen und damit die Störungen am Staats­anleihemarkt beruhigen; er kann seine Unterstützung in deutlich stärkerem Maß als die Europäische Zentralbank (EZB) an Bedingungen knüpfen - es würde zu weit führen, die einzelnen Instrumente und ihre Wirkungsweise hier zu erläutern, auch wenn das eigentlich wichtig wäre, um zu vers­tehen, warum der ESM helfen kann und wir - d.h. die SPD-Fraktion im Bundestag - seine schnellere Einführung schon früher unterstützt haben.

Der ESM soll die Schuldenrückzahlung an Gläubiger eines Staates sichern und helfen, dass dieses Land für eine gewisse Zeit mit internationaler Unterstützung auch weiterhin seine Aufgaben erfüllen kann, ohne von seiner Zinsbelastung erdrückt zu werden. Ein unterstützter Staat wird also vorüber­gehend vor dem Kapitalmarkt abgeschirmt, er gewinnt Zeit; auch die europäischen Staaten ver­schaffen sich etwas Spielraum - aber Zeit, um was zu tun? Die Antwort der Bundes­regierung hieß viel zu lange: Sparen. Die Antwort der SPD-Fraktion heißt schon von Anfang an: Sparen und Investieren.

Die Abschirmung durch eine Brandschutzmauer in Form des ESM muss durch viele Regelungen begleitet werden, die auf eine bessere Überwachung der Verschuldungslage, einen Abbau hoher Defizite, eine bessere Abstimmung zwischen Wirtschafts- und Finanz­politiken einzelner Mit­gliedstaaten der Europäischen Union bzw. der Eurozone, eine strengere Regulierung der Finanz­märkte…

Es gibt jenseits der grundsätzlichen Zustimmung für den ESM viele Aspekte des ESM-Vertrags, die ich kritisch sehe: ich denke dabei an insbesondere an die Haftungsrisiken für Deutsch­land und die Art und Zielrichtung der Ver­trags­verhand­lungen der Bundes­regierung ohne Beteiligung des Parlaments. Wie vertragen sich Haftungs­risiken, die einem Mehrfachen unseres jährlichen Bundeshaushalts zustreben, und Mitent­scheidungsbefugnisse, die immer weiter zusammen­schmelzen, mit unseren Vorstellungen von Haftung und Verantwortung? Was ist das Budget­recht des Parlamentes noch wert, wenn wir einen großen Teil unserer finanziellen Eigenständig­keit - und damit unserer Fähigkeit, eigenverantwortlich über die Verwendung von Steuerein­nahmen zu entscheiden - abgeben? Stehen wir angesichts der Entscheidungen über ESM und Fiskalpakt vielleicht an der Schwelle zu einem neuen Integrationsschub der Europäischen Union? Wie stark wollen wir ein Kernstück parla­men­tarischer Souveränität beugen, um den Erhalt der gesamten Europäischen Union zu gewähr­leisten?

In den Beratungen des Umsetzungsgesetzes für den ESM haben wir versucht, Antworten auf diese Fragen zu entwicklen und diese Brüche zu heilen - zumindest in der Arbeitsrichtung. Wir wollen „Schutz­mechanismen“ schaffen, um die Haftungsrisiken für die deutschen Steuerzahler mög­lichst gering zu halten, ohne die Arbeitsfähigkeit des ESM zu gefährden. Es ist bei der Um­setzung des ESM-Vertrags in nationales Recht in Deutschland vorgesehen, dass der Bundestag einen sog. Vorrats­beschluss trifft. Das bedeutet, dass die Mehrheit der Abge­ordneten dem ESM-Vertrag zustimmt und gleichzeitig dem deutschen Vertreter im Ver­waltungsrat bindende Vor­gaben für sein Abstimm­ungs­verhalten macht. Er darf der Be­willigung von Finanz­hilfen oder dem Einsatz der unter­schied­lichen ESM-Instrumente nur zustimmen, wenn der Empfängerstaat bestimmte Gegen­leistungen erfüllt. Damit soll sichergestellt werden, dass der Staat in einigen Jahren finanziell wieder auf eigenen Beinen stehen und seine Schulden zurückzahlen kann. Dieser sinnvolle Gedanke der Gegenleistung für ESM-Hilfen - für EFSF-Hilfen gilt diese sog. Konditionalität ebenso - macht es mir einfacher, der Besicherung dieser Finanzhilfen durch deutsches Steuergeld zuzustimmen. Allerdings kritisiere ich die Bundesregierung, aber auch den IWF und die Europäische Kommission für die einseitige, ineffiziente, sogar schädliche Ausgestaltung dieser Bedingungen.

In die Richtung einer Reduzierung unserer Risiken wirkt auch der sog. bevorrechtigte Gläubiger­status (preferred creditor) des ESM: Wie auch die Europäische Zentralbank (EZB) und der Internationale Währungsfonds (IWF) verfügt der ESM über eine vorrangige Position in der Hierarchie der Gläubiger, wenn sie Darlehen vergeben, Anleihen kaufen oder Sicher­heiten bereit­stellen. Das bedeutet, dass ihre Rückzahlungsansprüche vor allen anderen Gläubigern - Banken ebenso wie Einzelpersonen - bedient werden. Wenn also etwa ein Kredit nicht oder nicht voll­ständig zurückgezahlt wird, decken die Tilgungs­zahlungen und Kreditsicherheiten zunächst die Forderungen von EZB, IWF und ESM ab. Anders formuliert: Verluste treffen zunächst die privaten Gläubiger wie Banken und Fonds; EZB, IWF und ESM und die sie tragenden Steuer­zahler werden durch ihren Rang an der Spitze der Gläubiger­hierarchie hingegen - zumindest teilweise - geschützt. An dieser Konstruktion wollen wir, die SPD-Fraktion im Bundestag, festhalten. Mir wäre es allerdings lieber, wenn wir diese Absicherung nicht in Anspruch nehmen müssten, weil die Kreditnehmer des IWF und des EFSF/ESM bzw. die Anleihe­schuldner der EZB in der Lage sind, ihre Verbind­lichkeiten zu begleich­en.

Die Haus­haltsrisiken für Deutschland haben auch mit den Entscheidungsverfahren im Verwaltungs­rat zu tun, dem Entscheidungsgremium des ESM. Generell gilt hier die Ein­stimmig­keits­regel - es gibt allerdings zwei Aus­nahmen von dieser Regel, in denen eine einfache Mehr­heit ausreicht. Zu einer solchen Konstellationen kann es bei Beschlüssen über den Abruf zusätzlichen Kapitals von den Gesell­schaftern kommen, wenn ein Staat, der vom ESM unterstützt wird, mit seinen Rückzahlungen an seine Gläubiger in Rückstand gerät oder diese sogar ganz ausfallen. An dieser Stelle springt der ESM ein und garantiert den Gläubigern, dass sie ihr Geld zurückerhalten. Wenn das vorhandene Bar-Kapital des ESM nicht aus­reicht, um Gläubiger­forderungen zu bedienen, wird automatisch Geld von den Mitgliedstaaten innerhalb eines bestimmten Frist abge­rufen. Der Verwalt­ungsrat kann danach mit einfacher Mehrheit eine Wiederauffüllung des Bar-Kapital­stocks in Höhe von 80 Mrd. Euro beschließen.

Auch in der Phase des Kapitalaufbaus kann es zu höheren Zahlungsverpflichtungen kommen, da der Bar-Kapitalstock jederzeit mindestens 15 % der ausstehenden Dar­lehen des ESM an unter­stützte Staaten betragen soll. Je mehr Länder also Unterstützung erhalten und je höher die ein­gesetzten Mittel des ESM sind, desto mehr Geld müssen die restlichen Staaten in den ESM-Kapitalstock einstellen und desto stärker werden damit die Belastungen für die verbleibenden ESM-Gesellschafter - ein Ungleichgewicht zwischen „Gebern“ und „Nehmern“, das sich über einen längeren Zeitraum und ohne Gegenmaßnahmen nicht aufrecht erhalten lassen wird.

Mit dem Beschluss der Staats- und Regierungschefs vom 8. und 9. Dezember 2011 wurde ein Dring­lichkeits­verfahren eingeführt, das an Stelle des gegen­seitigen Einvernehmens eine quali­fizierte Mehrheit von 85 % setzt; Voraussetzung ist, dass KOM und EZB die besondere Eilbedürftigkeit einer Entscheidung über eine Finanz­hilfe feststellen, „wenn die finanzielle und wirtschaftliche Tragfähigkeit des Euro-Währungs­gebiets gefährdet ist.“ Mit dieser hohen Abstimmungsschwelle verfügt Deutsch­land weiter über ein Veto. Es besteht also schon theoretisch keine Möglichkeit, dass Deutschland überstimmt wird. Ich kann mir in der Realität auch nur schwer eine Situation vorstellen, in der die ESM-Gesell­schafter Entscheidungen treffen, die einseitig und gezielt gegen die stärkste Volks­wirt­schaft in Europa gerichtet sind. Und ich kann mir auch - bei aller Kritik an der europa­­politischen Strategie der Bundeskanzlerin (Wo ist eigentlich unser Außen­minister, und was macht unser Wirtschaftsminister?) - keine Konstellation vorstellen, in der es eine Bundesregierung zulässt, auf diese Weise politisch isoliert zu werden und den Gedanken der gemeinsamen europäischen Verantwortung aus den Augen zu verlieren.

Das Bundesfinanzministerium (BMF) und der Bundesrechnungshof (BRH) haben das maximale Risiko für den Bundeshaushalt aus dem Parallelbetrieb von EFSF und ESM, die vorübergehend über eine gemeinsame Kreditvergabekapazität von 700 Mrd. Euro verfügen, sowie die derzeit tatsächlich wirksamen Belastungen aus laufenden Hilfen für Griechenland, Irland und Portugal ermittelt. Der deutsche Anteil am gemeinsamen Volumen von EFSF und ESM beträgt 285,3 Mrd. Euro (EFSF: 95,3 Mrd., ESM: 190 Mrd. Euro). Dabei ist zu berücksichtigen, dass für den EFSF eine Erhöhung der Gläubigerhaftung für Anleihen, die die EFSF zur Finanzierung ihrer Hilfsmaßnahmen ausgibt, von 120 % auf 165 % angehoben wurde, um das Top-Rating der EFSF zu sichern und ihre Refinanzierungs­kosten niedrig zu halten. Damit stieg auch der deutsche Haftungsanteil, gemessen am EZB-Kapital­schlüssel, um 65 %. Insgesamt bleibt es beim Höchstbetrag von 211 Mrd. Euro, den wir im Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (StabMechG) beschlossen haben. Falls keine weiteren EFSF-Unterstützungsprogramme beschlossen werden, bleibt die Obergrenze für das deutsche Risiko bei rund 95 Mrd. Euro

Für das erste griechische Hilfspaket haben wir bislang Kapital in Höhe von etwa 15 Mrd. Euro ausgezahlt, unser Anteil an Hilfsmaßnahmen an Portugal und Irland im Rahmen des Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) beläuft sich auf knapp 10 Mrd. Euro.

Ich zitiere abschließend aus dem Bericht von BMF und BRH: „Das Bundesministerium der Finanzen weist darauf hin, dass der möglichen Belastung des Bundeshaushaltes durch Finanzhilfen aus der EFSF und dem ESM das Risiko eines Auseinanderbrechens der Eurozone gegenüberzustellen sei. Finanzhilfen aus der EFSF und dem ESM werden gemäß dem ultima ratio-Prinzip nur dann zugesagt, wenn diese zur Sicherung der Stabilität der Eurozone insgesamt für unerlässlich gehalten werden. Jedglicher Gewährung von Finanzhilfen steht also das nach Einschätzung des Bundesministeriums der finanzen wesentlich größere Risiko einer schweren Störung des Finanzsytems der Wirtschafts- und Währungsunion oder sogar eines Auseinanderbrechen der Eurozone gegenüber.“

In diesem Sinne verbleibe ich mit freundlichen Grüßen

Christoph Strässer