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Bettina Herlitzius
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Frage von Thomas I. •

Frage an Bettina Herlitzius von Thomas I. bezüglich Verkehr

Sehr geehrte Fr. Herlitzius,

nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist die Zahl der Verkehrstoten im Jahre 2011 in D um 9,4 % gegenüber 2010 gestiegen. In NRW betrug die Zunahme 12,9 %.
1. Frage: Welche Maßnahmen sehen Sie als erfolgversprechend an, den Negativtrend zu stoppen ?
2. Frage: Man liest in der letzten Zeit von einer Reform des Punktekatalogs. Verkehrsminister Ramsauer plant eine Neufassung, die einer pauschalen Vereinfachung nahekommen könnte (2 x Telefonieren am Steuer entspricht nach der neuen Punkteregelung einer Alkoholfahrt, ob mit 71 oder 101 km/h innnerhalb geschlosser Ortschaften, das Punkteergebnis wäre identisch). Halten Sie diese Reform für notwendig und zweckmäßig ?
3. Frage: NRW ist ein staugeplagtes Land. Einige Parteien befürworten einen Ausbau der BABs, wobei dabei die Frage nach der Finanzierung/Baudauer nicht gestellt wird. Ihre Partei befürwortet ein generelles Tempolimit (120 km/h), das von Autofahrern als Gängelung angesehen wird; holländische Verhältnisse möchte man nicht haben. Gibt es aktuelle Studien, die belegen, dass sich bei einem generellen Tempolimit die Durchflussgeschwindigkeit pro Autobahnkilometer (Stunde/Fahrzeuge) verändern wird und damit ein Teil des Stauproblems gelöst werden könnte ?

Mit freundlichen Grüssen
Thomas Ihle

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Her Ihle,

im folgenden möchte ich zu Ihren Fragen, soweit mir möglich, Stellung nehmen:

zu Frage 1:

Im Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr der Bundesregierung heißt es: Jeder im Straßenverkehr Getöteter ist ein Getöteter zu viel! Diese Ansicht unterstreichen wir.

Im Unfallverhütungsbericht heißt es aber auch, dass das Ziel, einen unfallfreien Straßenverkehr anzustreben, nur mit unvertretbar hohen Kosten zu erzielen sei. Dieses Leitbild ist lebensfeindlich. Das lehnen wir ab, weil es Tote und Schwerverletzte in Kauf nimmt.

Die Mobilität darf als gesellschaftlicher Wert nicht höher bewertet werden als die Wertschätzung des Lebens und der Gesundheit. Ganz zu schweigen von den Unfallfolgekosten, die deutlich höher sind als die erforderlichen Verkehrssicherheitsinvestitionen.

Wir sind davon überzeugt: Wer sich intensiv für das Ziel "Vision Zero - Null Verkehrstote" einsetzt, der kann es langfristig auch erreichen. Dazu brauchen wir eine Strategie, die darauf basiert, dass der Mensch Fehler macht. Nicht der Mensch ist besser dem Verkehr anzupassen, sondern das System Straße. Was in anderen europäischen Ländern möglich ist, das ist auch bei uns möglich. Kürzungen bei den Regionalisierungsmitteln sind im Hinblick auf Verkehrssicherheit sicher nicht zielführend. Jeder zusätzliche Nutzer des öffentlichen Verkehrs erhöht die Verkehrssicherheit und verlangsamt den Klimawandel. Das Risiko, im Auto zu verunglücken, ist zwölfmal und sich zu verletzten vierzigmal höher als im Zug.

Bei 52 Prozent der Alleinunfälle ist nicht angepasste Geschwindigkeit die Hauptursache. Aufklärungs- und Informationskampagnen reichen nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, dass es in Deutschland als nahezu einzigem Land der Welt kein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen gibt. Die Tradition "freie Fahrt für freie Bürger" ist offensichtlich so schwer zu überwinden, wie in den USA das verfassungsmäßig verbriefte Recht, eine Waffe tragen zu dürfen.

Wir müssen uns der Frage stellen, ob das Recht einiger weniger, mit ICE-Geschwindigkeiten über deutsche Autobahnen zu rasen, höher einzustufen ist, als das Recht derer, die sich aufgrund dieser exzessiven Geschwindigkeiten bedroht fühlen, da sie mit einem weniger leistungsstarken Fahrzeug unterwegs sind?

Tempo 130 auf deutschen Autobahnen ist genug. Langsamer Fahren heißt sicher ankommen. Wer für eine europaeinheitliche Verkehrssicherheit ist, darf beim Tempolimit nicht auf der Bremse stehen. Wir begrüßen den Vorstoß von Jacques Barrot für ein allgemeines europäisches Tempolimit.

Was für die Autobahn gut ist, kann für die Landstraße nicht schlecht sein. Auch hier fordern wir eine Geschwindigkeitsreduktion. Die Zahl der Getöteten auf Landstraßen ist am höchsten. Auch für den innerörtlichen Verkehr fordern wir eine weitere Geschwindigkeitsbegrenzung. Das kommt insbesondere den schwächsten Verkehrsteilnehmern und damit unseren Kindern zugute. Geschwindigkeitsreduktionen führen auch zu geringeren Investitionskosten, weil die Regelquerschnitte der Straßen kleiner ausfallen können. Trotzdem ist die Einhaltung der Regeln intensiver zu kontrollieren. Die Geldbußen entfalten keine Abschreckung. Sie sind im Vergleich zu anderen Ländern viel zu niedrig.

Wir können noch mehr tun, zum Beispiel im Bereich des Güterverkehrs. Die Verlagerung eines großen Teils des Güterverkehrs auf die Schiene ist auch ein Beitrag zur Verkehrssicherheit.

Wir sind für die Zähmung rasender Kleinlaster, weil sie überdurchschnittlich häufig Unfälle verursachen. Die Fahrer sind hohen Belastungen ausgesetzt. Sie unterliegen nicht den Lenk- und Ruhezeiten und brauchen weder eine Wochenend- noch eine Fahrgenehmigung für Feiertage.

Bei den schweren Lkw werden höchstens 4 Prozent aller Verstöße gegen Straßenverkehrsregelungen aufgespürt. 213 000 Verstöße gegen Lenk- und Ruhezeiten. Das ist zu viel. Verstöße gegen Ladungsvorschriften und überhöhte Geschwindigkeiten kommen hinzu. So fuhren 87 Prozent der LKW, die 2003 auf der Landstraße kontrolliert wurden, zu schnell. Wir brauchen mehr Kontrollen und härtere Strafen, die die Kostenersparnisse, die durch illegales Verhalten entstehen, abschöpfen. Die Fahrzeughalter sind als Auftraggeber mehr in die Pflicht zu nehmen. Regelverstöße dürfen sich auch hier nicht lohnen. Im Vergleich zu anderen Verkehrsunfällen enden Unfälle mit Lkw-Beteiligung doppelt so oft tödlich. Das ist vermeidbar.

16 Prozent der Unfälle gehen auf Alkoholkonsum zurück, so der Bericht. Auch hier könnte die Bundesregierung mehr von jungen und alten Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen fordern.

Ein anderes Thema ist die Mobiltätserziehung: Die Mobilitätserziehung muss sich künftig bundesweit und systematisch der kindgerechten Vermittlung der Verkehrswelten auf allen Ebenen und für alle Altersstufen ab dem Kleinkindalter widmen. Es ist vor allem zu erlernen, welches Sozialverhalten richtig ist, wenn man sich im Verkehr bewegt. Ebenso wichtig ist die Sensibilisierung für die Folgen von Drogen- und Alkoholkonsum. Darüber hinaus sind die Auswirkungen der unterschiedlichen Verkehrsträger auf Siedlungen und Umwelt zu vermitteln. Die richtige Verkehrsmittelwahl ist erlernbar.

Nicht unsere Kinder sind dem Verkehr anzupassen, sondern der Verkehr unseren Kindern. Das heißt: Wir müssen uns endlich von der autogerechten Stadt verabschieden.

Auch die Fahrschulausbildung bedarf einer grundlegenden Erweiterung. Die klassischen Säulen der Fahrschulausbildung: die Vermittlung von Verkehrsregeln, der Erwerb der Fahrzeugbeherrschung und das Erlernen lebensrettender Maßnahmen müssen künftig ergänzt werden. Die Fahrausbildung muss berücksichtigen, dass junge Fahrerinnen und Fahrer während der Anfangsphase mehr Begleitung und einen langsameren Erfahrungsaufbau benötigen. Dabei steht die Sensibilisierung für das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer im Mittelpunkt. Dazu ist es notwendig, dass die Ausbildung der Fahrlehrer mehr psychologische und pädagogische Kenntnisse vermittelt.

Unsere Strategie setzt nicht nur auf technische Fahrzeugverbesserungen, sondern verfolgt umfassende Änderungen am gesamten Verkehrssystem, ohne die Mobilität einzuschränken. Hochgezüchtete Motorenleistungen sind hier der falsche Weg. Sie schaden der Umwelt und der Verkehrssicherheit.

Null Verkehrstote und Null Schwerverletzte lassen sich nur erreichen, wenn sich Verkehrssicherheit nicht auf die Perspektive der Windschutzscheibe beschränkt.

zu Frage 2:

Wir unterstützen den Vorschlag, die Bußgelder für besonders gefährliche Verhaltensweisen im Verkehr zu erhöhen. Auch ist zu begrüßen, dass die Mittel aus diesen Einnahmen der Verkehrssicherheitsarbeit zu gute kommen sollen.

Allerdings fehlt noch immer ein überzeugendes Konzept für die Erlangung von mehr Verkehrssicherheit. Es bleibt der Eindruck, dass die angekündigten Maßnahmen Stückwerk bleiben. So wurden zwar die Strafen für Drängler erhöht. Bußgelder ohne erhöhte Kontrolldichte werden aber ihre Wirkungen weitgehend verfehlen.

Wir fordern das Verkehrsministerium daher auf, analog zum angekündigten Masterplan Güterverkehr und Logistik einen Masterplan Verkehrsicherheit mit allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen zu erarbeiten, der sich an einer Vision Null-Verkehrstote, wie sie in Schweden und der Schweiz gilt, orientiert und das Thema Verkehrssicherheit endlich gesamthaft angeht.

zu Frage 3:

In einem hochrangig besetzten Fachgespräch haben wir unsere Argumente für eine allgemeines Tempolimit von 120 auf deutschen Autobahnen von Fachleuten beleuchten lassen. Sie wurden zum allergrößten Teil bestätigt.

Die geladenen Experten - Dipl. Psych. Micha Hilgers (selbständiger Psychoanalytiker DGPT, Supervisor und Organisationsberater DAGG/ DGSv), Martin Mönnighoff (Deutsche Hochschule der Polizei), Prof. Dr.-Ing. Stefan Gies (Institut für Kraftfahrzeuge der RTWH Aachen) und Michael Gehrmann (Bundesvorsitzender des Verkehrsclub Deutschland e.V.) - betrachteten das Thema Tempolimit aus dem Blickwinkel der Psychologie, der Verkehrssicherheit, des Umweltschutzes und der Fahrzeugtechnik.

Psychologisch betrachtet sind Autos für viele Menschen mächtige Alltagssymbole, die persönliche Freiheit versprechen. Der zweckrationale Beförderungsgrund tritt in den Hintergrund - der soziale Ausweis tritt hervor. Der Geschwindigkeitsrausch, der keineswegs neu ist und bereits bei Pferderennen zu beobachten war, vermittelt emotionale Kicks. Bewusst gewählte hohe Geschwindigkeiten vermitteln rauschhafte Gefühle. Dagegen treten die Gefahreneinschätzung, Angstregulation und Hemmung in den Hintergrund, was Enthemmung und Aggression mit sich bringen. Dieses Phänomen führt dazu, dass die Instanz des Gewissens unter diesen Umständen schlecht oder gar nicht funktioniert, weil der Frontallappen des Gehirns, das Zentrum des logischen Denkens, schwächer durchblutet wird.

Hinzu kommt, dass Straßenverkehr ein Gruppenphänomen ist: Ein einzelner aggressiver Raser steckt andere Verkehrsteilnehmer emotional an - entweder mit Aggression oder Angst. Unter dem Strich verlassen Verkehrsteilnehmer den Straßenverkehr aggressiver als sie ihn aufgesucht haben. Die Konfliktforschung zeigt, dass defensive Gruppenmitglieder emotional leider nicht ansteckend wirken.

Die meisten AutofahrerInnen sind schockiert, wenn ihnen Videos ihrer Raserei gezeigt werden. Die Mehrzahl rast nicht bewusst, sondern es scheint, als passiere es ihnen - im Rahmen von Zeitnot und Ablenkung (z. B. Musikanlage, Gespräche). Die Situation wird durch moderne Fahrzeuge verstärkt: Gute Federung, Geräuscharmut und Spursicherheit vermitteln trügerische Sicherheitsgefühle. Dadurch kann die interne Selbststeuerung versagen. Hinzu kommt ein prinzipielles Phänomen: Wer im Auto fährt, ist anonym. Verkehrsteilnehmer werden zu Objekten in Form von Fahrzeugen, was ebenfalls die Aggressionshemmung herabsetzt.

Mehr Klimaschutz

Die Einführung von Tempo 120 auf deutschen Autobahnen brächte auch verschiedene Vorteile für die Umwelt, wobei die für den Klimaschutz am meisten hervorstechen. Durch Tempo 120 könnten 3,4 Mio. t CO2 pro Jahr sofort eingespart werden, ohne Kosten zu verursachen. Das wären bis zum Jahr 2020 mindestens 34 Mill. t CO2 (Meseberger Programm, Ziel der Bundesregierung für den Verkehr bis 2020: 33 Mio. t). Der Beitrag ist keineswegs klein, was verschiedene Vergleichszahlen verdeutlichen: Die mittlere Großstadt Freiburg emittiert 1,7 Mill. t oder sämtliche in der BRD betriebene Busse emittieren 3,3 Mio. t. Des Weiteren würden mit dem Verkehr verbundene volkswirtschaftliche Kosten gesenkt werden.

Die Autobahn als sicherste Straße ist ein Mythos. Unter der Voraussetzung, dass es auf Autobahnen weder Gegenverkehr noch Radfahrer oder Fußgänger gibt und dort dennoch 12,4 Prozent der Getöteten zu beklagen sind, können Autobahnen nicht als besonders sicher gelten. Daher ist es keine Überraschung, dass bei der Betrachtung der gefahrenen Kilometer deutsche Autobahnen im EU-Vergleich in Punkto Sicherheit lediglich auf Platz 8 hinter der Schweiz, Dänemark und in den Niederlanden landet, die als besonders sicher gelten.

Bei den Unfällen nach Ortslage im Jahre 2007, die auf die Geschwindigkeit zurück zu führen sind und für dessen Verursachung die Fahrzeugführer verantwortlich sind, waren 14% der Getöteten und 13% der Verkehrsunfälle mit Personenschaden zu beklagen. Bei einem Vergleich der Autobahnen mit und ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, verunglückten bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung von bis zu 120 km/h 9,3 Prozent, bei bis zu 130 km/h 3,7 Prozent und bei Autobahnen ohne Tempolimit 67,9% bei Unfällen auf Autobahnen. Absolut betrachtet, gehen 409 der insgesamt 602 auf Autobahnen in 2007 Getöteten zu Lasten eines fehlenden Tempolimits. Das es sich um einen Mythos handelt, wird noch deutlicher, wenn die Unfallzahlen von 2007 auf 1.000 km Straße bezogen und Autobahnen mit Bundesstraßen verglichen werden. Auf Bundesstraßen verunglückten pro 1.000 km Straße 2.276, auf Autobahnen 2.549. Getötet wurden pro 1.000 km Straße auf Bundesstraßen 34, auf Autobahnen 48.

Auch wenn unsere Hoffnungen, dass sich die Einführung eines Tempolimits auf deutschen Autobahnen ebenfalls positiv auf die Fahrzeugkonstruktion und auch dadurch auf die Reduktion des Energieverbrauchs auswirkt, durch die Beiträge auf diesem Fachgespräch nicht genährt wurde: Alles spricht für ein Tempolimit. Es bleibt dabei: Tempo 120 ist überfällig.

Ich hoffe die Fragen zu Ihrer Zufriedenheit beantwortet zu haben. Die späte Antwort bitte ich zu entschuldigen.

Mit freundlichen Grüßen

Bettina Herlitzius MdB