Ist eine Abiturfeier schuld an der Last-Minute-Änderung des Meldegesetzes? (Update)

"Es geht nicht um die Werbewirtschaft", sagt CSU-Innenexperte Uhl zur Empörung über das Meldegesetz. Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache: Denn von den entscheidenden Änderungen am Gesetzentwurf profitiert die Adress- und Werbelobby. Ohne diese Änderungen hätte es vermutlich Ärger mit der Wirtschaft gegeben - sagt ausgerechnet ein Mitarbeiter von Uhl.

von Martin Reyher, 10.07.2012

Ist am Ende eine Abiturfeier verantwortlich für die Last-Minute-Änderung am Meldegesetz? Diese Version bringt heute Morgen der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl im Deutschlandfunk ins Spiel. Uhl war eine der treibenden Kräfte hinter der Aufweichung der Datenschutzregelung im umstrittenen Gesetz - und sein Argument geht so:

Weil Bürger beim Einwohnermeldeamt so häufig um die Herausgabe von Adressdaten bitten, etwa um einen ehemaligen Mitschüler zur Abiturfeier einzuladen, wären die Behörden vollkommen überfordert, wenn sie zuvor die Einwilligung der Betroffenen zur Weitergabe ihrer Adressdaten einholen müssten.

Uhl beschreibt das im DLF etwas ausführlicher:

Es war eine sehr monatelange Debatte unter Fachleuten über die Frage, ob im Melderegister eine Widerspruchslösung die bessere Lösung ist, oder eine Einwilligungslösung. Wir hatten uns bewusst noch mit Fachleuten aus den Einwohnermeldeämtern unterhalten darüber. Wir haben uns glaubhaft versichert, bei einer Einwilligungslösung müssten sie ja bei jeder einzelnen legitimen Anfrage von Bürgern, die eine Adresse von einem Mitbürger wollen, dort anfragen, ob sie einwilligen, dass ihre Adresse herausgegeben werden darf. Beispiel: Sie wollen eine Abiturfeier machen und suchen noch zwei ehemalige Mitschüler und wissen nicht, wo die hingezogen sind. Jetzt müsste das Einwohnermeldeamt entweder einen Brief oder eine Mail oder was auch immer schreiben, um diese Einwilligung einzuholen. Das ist in der Praxis nahezu unmöglich, wenn man daran denkt, dass allein in einer Stadt wie München circa 100.000 Anfragen von Bürgern im Jahr vorkommen. Es geht also nicht um die Werbewirtschaft; es geht darum, dass Einzelanfragen von Bürgern, die legitim sind in aller Regel, beantwortet werden müssen.

Ging es bei den umstrittenen Last-Minute-Änderungen am Meldegesetz tatsächlich nur um die Einzelanfragen von Bürgern, wie Uhl behauptet? Die Fakten sprechen eine andere Sprache.

Die öffentliche Empörung richtet sich vor allem gegen eine Änderung des Absatzes 3, Satz 2 in Paragraph 44 des Meldegesetzes. In der ursprünglichen Fassung des Gesetzes, die bis zum Vortag der Abstimmung im Bundestag galt, hieß es:

Die Erteilung einer einfachen Melderegisterauskunft ist nur zulässig, wenn die Auskunft verlangende Person oder Stelle erklärt, die Daten nicht zu verwenden für Zwecke
a) der Werbung oder
b) des Adresshandels
es sei denn die betroffene Person hat in die Übermittlung für jeweils diesen Zweck eingewilligt.

Die Adressen von zwei ehemaligen Klassenkameraden? Von Einzelanfragen durch Bürger für private Anliegen ist bei der Einwilligungslösung gar keine Rede, denn diese bezieht sich ausdrücklich auf Werbung und Adresshandel ("für jeweils diesen Zweck"). Mit diesem Passus sollte dem Adresshandel und ungewünschter Werbung Einhalt geboten werden. Die Verbraucher wären in diesen Fällen Herr über ihre persönlichen Daten geblieben, es sei denn, sie hätten einer Weitergabe ausdrücklich zugestimmt.

In dem von Hans-Peter Uhl und seiner Kollegin Gisela Piltz eingebrachten Änderungstag fehlt diese verbraucherfreundliche Einwilligungslösung plötzlich. Statt der Weitergabe seiner Daten zuzustimmen, muss ein Bürger nun Widerspruch einlegen, wenn er die Herausgabe an einen Adresshändler oder ein Marketingunternehmen nicht will. Doch sogar diese Widerspruchslösung wird durch eine weitreichende Einschränkung im Gesetz noch einmal aufgeweicht.

Wenn es nicht wegen der Abiturfeier war – warum dann die handstreichartige Änderung am Meldegesetz, die einen Tag vor der Schlussabstimmung vom Innenausschuss beschlossen wurde?

Die Antwort kommt ausgerechnet von einem Wahlkreismitarbeiter von Hans-Peter Uhl, und der fährt seinem Chef („Es geht nicht um die Werbewirtschaft“) auf FOCUS online kräftig in die Parade: "Hätten wir die Einwilligungslösung gemacht, hätten ja alle Versandhändler aufgeschrien."

Update 1: Inzwischen hat FOCUS online das Zitat des Mitarbeiters von Hans-Peter Uhl wieder gelöscht, meldet netzpolitik.org. Zur Erklärung heißt es bei FOCUS online:

Update 2: Die Frankfurter Rundschau zur Sorge Uhls vor Ärger mit den "betroffenen Branchenverbänden":

Folgt man den Schilderungen aus der Koalition, sucht Uhl daraufhin das Gespräch mit seinem Pendant bei der FDP, Gisela Piltz. Die Einwilligungslösung sei inakzeptabel, weil es die betroffenen Einwohnermeldeämter für ungeahnte Schwierigkeiten stelle, sagt Uhl. Außerdem habe man doch vereinbart, nicht über die bestehenden Regeln hinauszugehen. Und niemand wolle sich doch ernsthaft den Unmut der betroffenen Branchenverbände zuziehen. Mit der Branche sind Adresshändler und Inkasso-Agenturen gemeint.

Die FR weiter:

Mehrere Insider im Bundestag sagen...: „Es ist absolut lebensfremd zu glauben, dass sich keine Lobby gegen einen solchen Entwurf engagiert hat. Die hätten sonst ihren Beruf verfehlt.“

Update 3: Der Tagesspiegel zeigt, warum Adresshändler und Werbehändler ein Interesse an der Einschränkung der Widerspruchslösung hatten:

Direkte Anfragen in Einzelfällen (und um die geht es im aktuellen Streit vor allem) sind so häufig nicht. Manchmal kommen sie von Privatleuten, manchmal von Unternehmen. Die Bundesregierung geht sogar nur von 10000 Fällen pro Jahr aus, die kommerziell motiviert sind, also von Werbefirmen, Adresshändlern oder Marktforschern. Weitaus häufiger fragen solche Unternehmen aber bei den Kommunen mit dem Wunsch an, schon bestehende Adressdateien abgleichen und aktualisieren zu können, nicht zuletzt, um Verstorbene und Weggezogene zu löschen. Hier soll es weder ein Widerspruchs- noch ein Einwilligungsrecht der Bürger geben

Update 4: Eine Äußerung vom Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg, im Deutschlandfunk zeigt, welches Interesse Adresshändler an einer Verhinderung der verbraucherfreundlichen Einwilligungslösung hatten:

Dann ist übrigens noch mal der Vorschlag gemacht worden, also wenn ihr diese Einwilligungslösung mit dem Anschreiben machen wollt, dann mag doch der Adresshändler die Einwilligung besorgen. Das ist auch so diskutiert worden. Aber warum am Ende dann diese Widerspruchslösung kam, mit dieser Einschränkung, das entzieht sich meiner Kenntnis.

Update 5: EU-Justizkommissarin Viviane Reding hat sich zum Meldegesetz zu Wort gemeldet:

Ich bin überrascht, dass einige deutsche Politiker die Profit-Interessen von hiesigen Werbeunternehmen vor das Grundrecht der Bürger auf Datenschutz stellen.

Update 6: Grünen-Landtagsabgeordneter Alexander Salomon aus Baden-Württemberg bezog sich am 11. Juli in einer Parlamentsrede auf diesen Artikel:

Ich fand es dann auch ziemlich interessant – das konnte man auf „abgeordnetenwatch“ nachlesen –, was Herr Uhl morgens im Deutschlandradio gesagt hatte: Es gehe ja eigentlich bei dieser ganzen Regelung eher um die armen Abiturienten, die 30 Jahre später herausfinden müssen: Wo ist denn eigentlich mein Abiturkollege inzwischen? Ich will ihn einladen.

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