Warum das Bundestagswahlrecht verfassungswidrig ist - und wie sich das ändern ließe

Sollte es in den nächsten Wochen zu vorgezogenen Neuwahlen im Bund kommen, würden unsere Volksvertreter nach einem verfassungswidrigen Wahlgesetz gewählt. Denn nach Auffassung des Wahlrechtsexperten Dr. Martin Fehndrich verstößt das derzeitige Wahlgesetz in mehreren Punkten gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. In einem Gastartikel für abgeordnetenwatch.de erklärt Fehndrich, warum das so ist und fragt u.a., ob das bestehende Wahlrecht einfach nur stümperhaft formuliert wurde - oder ob Absicht dahinter steckt.

von Martin Reyher, 15.04.2012

Gegen das Bundestagswahlrecht liegen derzeit mehrere Klagen vor, u.a. von den Machern des renommierten Portals Wahlrecht.de, zu denen der Autor gehört. Im folgenden skizziert er Lösungen für ein verfassungskonformes Bundestagswahlrecht.

Von Dr. Martin Fehndrich

Wahlrecht paradox: Wenn eine Stimme mehr plötzlich zum Nachteil wird

Das Bundeswahlgesetz ist verfassungswidrig, denn es ermöglicht, daß ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann. Dies ist das sogenannte „Negative Stimmgewicht“. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber verpflichtet bis zum 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen (Urteil vom 3. Juli 2008, BVerfGE 121, 266).

Doch statt dieser Verpflichtung nachzukommen hat der Bundestag das negative Stimmgewicht ausgeweitet, das Wahlsystem weiter verkompliziert und ihm eine Reihe von Unschärfen und Proporzwidrigkeiten hinzugefügt. Deshalb liegen mehrere Klagen gegen das geänderte Wahlgesetz beim Bundesverfassungsgericht, die neben dem negativen Stimmgewicht auch Überhangmandate und fehlende Normenklarheit der neuen Regelung bemängeln.

Im Folgenden berichte ich über das Wahlsystem, Überhangmandate, negatives Stimmgewicht, die verschleppte und vereitelte Wahlreform und die Klagen dagegen - und wie Lösungen aussehen könnten.

Warum aus 598 Bundestagssitzen meist sehr viel mehr werden

Im Bundestagswahlsystem gibt es zwei Elemente, deren Zusammenspiel nicht unbedingt sofort verständlich ist. Die Listenwahl mit Proporz und die Mehrheitswahl in Wahlkreisen. Die Trennung der beiden Elemente drückt sich auch durch zwei Stimmen bei der Bundestagswahl aus, auch wenn ein Einstimmensystem genauso möglich wäre.

Bei Bundestagswahlen werden 598 Sitze proportional auf die Parteien verteilt, die die Sperrhürde überwunden haben. 299 Sitze gehen an die Sieger in den Wahlkreisen. Dabei werden aber nicht etwa 598+299=897 Sitze verteilt, sondern beide Teilergebnisse werden miteinander verrechnet.

Im Idealfall werden insgesamt nur 598 Sitze verteilt. Alle Wahlkreisabgeordneten sind dann quasi doppelt gewählt, über die Zweitstimmen im Land und über die Erststimmen im Wahlkreis. Dahinter steckt die Annahme, daß sich die beiden Teilergebnisse zu 100% überlappen. Wenn dies nicht der Fall ist, also einer Partei mehr Direktmandate zustehen als Proporzmandate, entstehen Überhangmandate.

Das Auftreten von Überhangmandaten ist dabei kein Ausnahmefall. Vielmehr muß man es als Spezialfall ansehen, wenn sich die Teilwahlergebnisse vollständig überlappen. In allen anderen Fällen treten Überhangmandate auf.

Keine Überhangmandate kann es geben, wenn nur zwei Parteien antreten, auf die sich die Wahlkreisgewinne aufteilen, oder bei einer absoluten Mehrheit für eine Partei. Auch Stimmensplitting sollte sich dabei in Grenzen halten.

Diese Bedingungen wurden früher eher erfüllt, inzwischen haben sie mit der politischen Realität nichts mehr zu tun. Überhangmandate in immer größerer Zahl werden zur Regel.

Warum eine Stimme für eine Partei wirken kann wie eine Stimme gegen die Partei

Negatives Stimmgewicht bedeutet, daß ein besseres Wahlergebnis, also mehr Stimmen für eine Partei zu einem schlechteren Wahlergebnis, also zu weniger Sitzen führt.

Eine Stimme für eine Partei wirkt so wie eine Stimme gegen die gewählte Partei. Hauptursache im Bundestagswahlsystem ist die Konkurrenz der Landeslisten einer Partei über die Wahlbeteiligung und die Möglichkeit landesinterner Überhangmandate. Dahinter steht die Einteilung des Wahlgebietes in Teilgebiete (Bundesländer) und die Art der Verrechnung zwischen diesen Gebieten.

Stimmen für eine Landeliste mit Überhangmandaten können für diese nicht zu einem Gewinn an Sitzen führen, solange ein Überhang besteht. Sie führen aber in der Konkurrenz aller Landeslisten zu Sitzverschiebungen von anderen Landeslisten zu der überhängenden. Im Ergebnis verlieren die anderen Landelisten Sitze, während die Überhängende nichts dazu erhält.

Man kann das negative Stimmgewicht grafisch darstellen, indem man die Anzahl der Sitze einer Partei auf die Zweitstimmenzahl einer Landesliste aufträgt und dabei die Ergebnisse aller anderen Landeslisten und die Wahlkreisgewinne gleich lässt. Im Beispiel (rote treppenförmige Kurve) für die Bundestagswahl 2009 die Anzahl der Sitze der CDU in Abhängigkeit ihrer Zweitstimmenzahl in Baden-Württemberg.

Bei einem proportionalen Wahlsystem steigt die Zahl der Sitze proportional mit den Stimmen an. Die Rundung auf einen Sitz führt zu einer Treppenform. Im Bundestagswahlsystem wird im Bereich der Überhangmandate aus der ansteigenden Kurve eine fallende Kurve (linker Kurvenbereich). Die mehrstufige abwärtsführende Treppe verdeutlicht die Größe des Effekts, der sich nicht auf die Rundung eines Sitzes beschränkt. Die blaue, v-förmige Kurve, ergibt sich aus einer Berechnung ohne Rundung und zeigt anschaulich, daß negatives Stimmgewicht nicht aus der Notwendigkeit ganzzahliger Sitzanzahlen folgt.

In Dresden trat das Problem 2005 offen zutage

Besonders deutlich trat das negative Stimmgewicht bei der Bundestagswahl 2005 durch eine Nachwahl in einem Wahlkreis offen zu Tage. Wegen dem Tod einer Direktkandidatin mußte im sächsischen Wahlkreis Dresden I die Bundestagswahl um 14 Tage verschoben werden. In Sachsen gab es nach dem Hauptwahltag Überhangmandate für die CDU. Die offene Frage vor der Nachwahl war dann nur noch, ob die CDU mehr als 42.000 Zweitstimmen erhalten würde und damit ein Überhangmandat verlöre oder ob sie weniger erhielte und damit das Überhangmandat behielte. Negatives Stimmgewicht wurde erkennbar diskutierter Teil der Wahlentscheidung.

Warum es sich manchmal lohnte, gegen die eigene Partei zu stimmen

Die Wähler können auf das Auftreten von Überhangmandaten und negativem Stimmgewicht reagieren. Dazu müssen sie nicht das Wahlergebnis in allen Details vorausberechnen können oder in einer Nachwahlsituation wie in Dresden stehen, sondern es reicht schon eine grobe Einschätzung, ob Überhangmandate in ihrem Land für eine Partei auftreten können oder nicht (siehe auch die grobe Einschätzungen und Tipps+Tricks vor den Wahlen 2002, 2005, 2009 bei Wahlrecht.de).

Ein informierter Anhänger solch einer Landesliste mit Chancen auf Überhangmandate kann über den potentiellen, einen Nutzen überwiegenden Schaden seiner Stimme Bescheid wissen und kann seine Wahlentscheidung überdenken. Er weiß auch, daß die Stimmabgabe für eine andere Partei (dem möglichen Koalitionspartner oder seiner zweitliebsten Partei) mit Landesliste ohne Überhang eine größere oder wenigstens wahrscheinlichere und positive Auswirkung hat und somit eine taktische Wahl in Betracht ziehen. Diese Vorhersehbarkeit verstärkt und stabilisiert das Auftreten der Überhangmandate.

Hat man überhaupt die „Wahl“?

Überhangmandate beeinträchtigen auf mehreren Ebenen die Gleichheit der Wahl. Der Proporz der Parteien wird gestört, aber auch der Proporz der Bundesländer und der einzelnen Landeslisten. Auch haben Wähler in großen Ländern weniger Chancen auf Überhangmandate, als die Wähler kleiner Länder. In großen Bundesländern bestehen viel mehr Möglichkeiten, daß sich Überhangmandate ausgleichen. Im großen Nordrhein-Westfalen gab es bei Bundestagswahlen noch nie Überhangmandate. Dies kann man u.a. auch auf die Größe des Bundeslandes führen, denn bei einer Einteilung in drei gedachte Teilbundesländer (Ruhrgebiet, Rheinland, Westfalen) wäre bei vergleichbarem Wahlergebnis wie 2009 in jedem Teilgebiet ein Überhang aufgetreten.

Negatives Stimmgewicht verletzt die Unmittelbarkeit und die Gleichheit der Wahl (BVerfGE 121, 266), und man kann durchaus diskutieren, ob und wann ein Berechnungsverfahren, daß bei zusätzlich abgegeben Stimmen zu weniger Sitzen der gewählten Partei führt, überhaupt noch eine „Wahl“ darstellt.

Den Richtern gefiel das negative Stimmengewicht "überhaupt nicht"

Nach der Bundestagswahl 2005 habe ich das negative Stimmgewicht mit einem Einspruch bemängelt und nach dessen Zurückweisung durch den Bundestag Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt (so ist das gesetzliche Wahlprüfungsverfahren). Das Bundesverfassungsgericht führte dazu überraschend eine mündliche Verhandlung durch, in der die Richter zu verstehen gaben, daß ihnen das negative Stimmgewicht überhaupt nicht gefiel.

Im Urteil vom 3. Juli 2008 wurde die Verfassungswidrigkeit des negativen Stimmgewichts festgestellt und der Bundestag verpflichtet innerhalb einer großzügigen Frist von 3 Jahren das negative Stimmgewicht zu beseitigen. Die Länge der Frist wurde dabei mit der Hoffnung verbunden, das ganze Wahlgesetz normenklarer zu gestalten. Wie wir inzwischen wissen, eine vergebliche Hoffnung.

Eine Aussage zu Überhangmandaten an sich gab es nicht, was aber auch nicht verwundert, da wir dieses Thema explizit ausgeklammert hatten. Allerdings wurde in folgenden Wahlprüfungen zur Frage der Überhangmandate explizit mit dem Hinweis auf die Neuregelung entschieden.

Im Schweinsgalopp durchs Parlament gepeitscht

Die drei Jahre der Frist sind ungenutzt verstrichen. Erst wenige Stunden vor Ende der Frist wurde ein Gesetzentwurf der Koalition im Bundestag behandelt und dann in einer Art Schweinsgalopp durchgepeitscht.

Das neue Wahlgesetz der Koalition beseitigt dabei weder das Problem der negativen Stimmgewichte, noch das der Überhangmandate, führt aber zusätzliche Unschärfen und Ungleichheiten ein und macht das ganze Gesetz noch komplizierter und unlesbarer. Es stellt damit praktisch in allen Punkten das diametrale Gegenteil des Verfassungsgerichtsauftrages dar. Daß Überhangmandate in gleicher Größenordnung auftreten wie bisher, kann dabei als ein Konstruktionsziel angesehen werden, muß also nicht überraschen. Es verwundert aber sehr, daß das Auftreten von negativem Stimmgewicht ausgeweitet wurde.

Die drei Kernpunkte im neuen Gesetz sind

  • die Rundungsreihenfolge (Partei, Land) wurde vertauscht,
  • ungültige Stimmen und Stimmen an Kleinparteien unter 5% erhöhen den Anspruch der anderen Parteien im jeweiligen Bundesland (Stimmenumgewichtung),
  • ein neuer Absatz 2a berechnet "positive Reststimmen" und verteilt dafür neugeschaffene Zusatzmandate.

Negatives Stimmgewicht bleibt mit dem neuen Gesetz bestehen und wird sogar ausgeweitet. Es bleibt bestehen, da der grundlegende Mechanismus, die Konkurrenz der Landeslisten einer Partei durch die Änderung der Rundung nicht beseitigt wird. Der Verzicht auf die Verbindung der Landeslisten führt – entgegen mancher Behauptung – nicht zu einer Beseitigung des negativen Stimmgewichts. Die Rundung auf Landesebene weitet es sogar auf Fälle ganz ohne Überhangmandate aus.

Auch die Zusatzmandate des neuen Abs. 2a führen zu negativen Stimmgewichten, weil die Reststimmen auf Basis eines der neuen Gesetzeslogik zuwiderlaufenden Bundesdivisors berechnet werden.

Ja selbst die neugefaßte Mehrheitsklausel, die einer Partei mit der absoluten Stimmenmehrheit auch eine Sitzmehrheit garantieren soll, führt zu neuem negativen Stimmgewicht.

Der neu geschaffene Effekt führt dazu, daß für Wähler einiger Landeslisten nur noch negatives Stimmgewicht als Regel der Stimmabgabe möglich wird. Betroffen sind beispielsweise Wähler einer Liste, deren Sitzanspruch sicher auf einen Sitz aufgerundet wird. D.h. ein voller Sitzanspruch wird nicht erreicht und es besteht keine Hoffnung auf einen zweiten Sitz. Einen solchen Anspruch von ca. 0,75 Sitz erreichen regelmäßig die Grünen in Bremen. Deren Wähler können mit ihrer Stimme ihrer Partei keinen zusätzlichen Sitz verschaffen, aber einer anderen Liste im Bundesland. Dies kann zulasten der Landesliste eines anderen Landes, also insb. einer anderen Landesliste der gewählten Partei sein. Im Ergebnis können die Stimmen der Partei nur schaden, nicht nützen.

Dazu kommt eine Verzerrung der Wahlgleichheit durch die unproportionalen Zusatzmandate des Absatzes 2a, die umgedrehte Rundung und die unterschiedliche Gewichtung der Stimmen in den Ländern.

Das negative Stimmgewicht im neuen Wahlgesetz kann man wiederum grafisch darstellen, es gibt nach wie vor große Kurvenabschnitte mit negativer Steigung:

Auch für das exemplarische Ergebnis der Nachwahl in Dresden 2005 tritt beim neuen Wahlsystem negatives Stimmgewicht auf.

Die Bürgerklage: Eine Verfassungsbeschwerde gegen das neue Wahlgesetz

Gegen das geänderte Bundeswahlgesetz wurde inzwischen eine von Mehr Demokratie e.V. und Wahlrecht.de initiierte Verfassungsbeschwerde eingelegt, an der sich bisher mehr als 4.500 Wahlberechtigte beteiligen. Desweiteren ist eine Normenkontrollklage der Bundestagsfraktionen der SPD und Bündnis 90/Grüne und ein Organstreitverfahren der Partei Bündnis 90/Grüne anhängig. Die Klagen bemängeln alle das negative Stimmgewicht und die Möglichkeit der Überhangmandate. Das Bundesverfassungsgericht hat noch im Dezember 2011 die Klageschriften an Bundesregierung, Bundestag, die Parteien etc. weitergeleitet und um eine Stellungnahme bis Ende Februar 2012 gebeten.

Nichtwähler als "seltene Ausnahmefälle" Entgegen der Beispielrechnungen, und quantitativer Untersuchungen, nach denen negatives Stimmgewicht im neuen Wahlgesetz sehr häufig auftritt behauptet die Koalition, das negative Stimmgewicht wäre beseitigt und beruft sich dabei auf Berechnungen des Bundesministeriums des Innern, die diese nur noch als vernachlässigbare „seltene Ausnahmefälle“ sieht. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man sich die Annahmen dieser Berechnung anschaut.

Das Innenministerium ignoriert nämlich die Fälle, in denen Wähler zuhause bleiben, bzw. Nichtwähler zur Wahl gehen, sondern betrachtet nur die Fälle, in denen ein Wähler seine Stimme ungültig macht, bzw. in denen Ungültigwähler ihre Stimme gültig machen. Erweitert man die BMI-Berechnung um die fehlenden Stellen, erhält man wieder Fallzahlen in bisheriger Größenordnung.

An dieser Stelle sollte die ganze Argumentation der Koalition zerbrechen. Sollte man meinen. Schließlich darf keine Form der Nichtwahl, sei es ungültig oder nicht abgegeben, zu einem besseren Ergebnis für die dann nicht gewählte Partei führen.

Die Stellungnahmen von Bundestag, Bundesregierung und der Unionsparteien engen aber die Definition des negativen Stimmgewichts auf Fälle konstanter Wahlbeteiligung – und damit variabler Anzahl ungültiger Stimmen – ein und werfen uns vor, die Sichtweise, die wir schon in dem Wahlprüfungsverfahren 2005 vertreten hatten, sei eine unzulässige Ausweitung der Sichtweise des Bundesverfassungsgericht.

Auch das Beispiel der Nachwahl in Dresden mit neuem Wahlgesetz falle nicht unter die Definition des Bundesverfassungsgericht. Mit dieser Sichtweise kann man aber auch die Nachwahl mit damalig gültigem Wahlgesetz als Beispiel in Frage stellen. Schließlich müßten mindestens 3.125 der 1.888 Wähler mit ungültiger Zweitstimme diese stattdessen der CDU gegeben haben um einen Sitzverlust zu bewirken. Also eine negative Anzahl ungültiger Stimmen. Die Erweiterung des Definitionsbereichs auf negative Anzahlen von Wählern und Stimmen ist für das Innenministerium anscheinend weder unzulässig noch selten. Denn auch in dessen Berechnungen kommen negative Stimmenzahlen vor.

Stümperhaft oder absichtlich?

Mit der Beibehaltung und Ausweitung des negativen Stimmgewichts übt die Koalition einen enormen Entscheidungsdruck auf das Gericht aus. Rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl, unter Berücksichtigung der Kandidatenaufstellung, also noch in diesem Jahr muß ein verfassungsgemäßes Bundeswahlgesetz vorliegen. Damit wird es für das Gericht fast unmöglich keine Entscheidung auch zu den Überhangmandaten zu treffen.

Man kann diese Mißachtung des Verfassungsgerichtsauftrages mit dem geringen Stellenwert des Wahlrechts im Bundestag erklären. Oder steckt dahinter die Hoffnung, der für wahlrechtliche Fragen zuständige zweite Senat wäre in der jetzigen Zusammensetzung eher überhangfreundlich? Möglicherweise soll das negative Stimmgewicht (verstärkt durch die neuen Regelungen) eine Sollbruchstelle im Gesetz darstellen, die zu einer Art Kompromiß im Senat führt. Dann ohne negatives Stimmgewicht, aber weiterhin mit Überhangmandaten.

Auch bindet ein handwerklich schlechtes Gesetz Kapazitäten von Kritikern, Beobachtern und auch vom Bundesverfassungsgericht, die sich nun mehr mit reichlich Unsinn, und damit weniger mit dem Kernanliegen, den Überhangmandaten, beschäftigen können.

So ließe sich das "negative Stimmengewicht" beseitigen

Für eine Lösung muß unterschieden werden, ob man nur das negative Stimmgewicht herausrechnen will, oder man das grundlegendere Problem der Überhangmandate lösen will.

Negatives Stimmgewicht kann quasi über die Anwendung der eigenen Definition beseitigt werden. Wenn ein besseres Wahlergebnis zu weniger Sitzen führt, soll sich die Zahl der Sitze nach diesem „schlechteren“ Wahlergebnis und zwar dem schlechtesten so erzeugbaren richten.

Am Beispiel des Bundestagswahlergebnisses 2009. Wenn die CDU damals 1.558.852 Zweitstimmen mehr (richtig verteilt auf die überhängenden Landeslisten) erhalten hätte, hätte sie nur 189 Sitze erhalten, fünf Sitze weniger.  Es ist nicht zu rechtfertigen, warum die CDU nach der Wahl 5 Sitze mehr für das schlechtere Ergebnis bekommen sollte. Eine Korrektur bezüglich des negativen Stimmgewichts würde ihr insgesamt auch nur diese 189 Sitze zuteilen.

Man kann diesen Ansatz als den „minimalinvasiven“ Eingriff betrachten, denn der Eingriff beschränkt sich auf das negative Stimmgewicht, ohne an den Überhangmandaten oder anderen Elementen im Wahlrecht grundsätzlich etwas zu ändern. Wahlergebnisse ohne Überhangmandate ergäben dieselbe Sitzverteilung.

In der grafischen Darstellung ist das negative Stimmgewicht verschwunden, statt des Asts mit negativer Steigung ist dort ein Ast mit Steigung null. Der Ast mit der negativen Steigung wurde förmlich herausgeschnitten.

Der Ansatz hat allerdings einen Schönheitsfehler. Das negative Stimmgewicht wird, wenn es in dieser Form explizit herausgerechnet wird, Teil der Berechnung, ein eigener Paragraph im Bundeswahlgesetz, der explizit auf die Schwäche des Wahlsystems hinweist.

Gesucht ist also eine mathematisch äquivalente Beschreibung (oder eine verwandte Lösung), der man nicht mehr ansieht, daß negatives Stimmgewicht herausgerechnet wird, bzw. mit einer wahlsystematischen Beschreibung.

Am einfachsten wäre dies bei einem gedachten Wahlsystem ohne Rundungen auf ganze Sitze zu erreichen. Dann könnte man die Sitzverteilung mit einer Formel für den Parteidivisor beschreiben.

Parteidivisor = (Summe verteilungeberechtigte Stimmen - Summe Stimmen derPartei in deren Überhangländern) / (Gesamtmandate - Summe Direktmandate der Partei in deren Überhangländern)

Die Sitzzahl einer Landesliste dieser Partei ist dann das Maximum aus der Zahl der Direktmandate und dem Quotient aus Zweitstimmenzahl und Parteidivisor. Praktisch bedeutet dies, daß man die überhängenden Landesverbände einer Partei mit Sitzen und Stimmen aus dem Proporz nimmt und die Verteilung mit dem Rest wiederholt. Auch bei D’Hondt als Berechnungsverfahren für Ober- und Unterverteilung wäre so ein Verfahren äquivalent zum minimalinvasiven Eingriff der Minimierung.

Allerdings nicht bei dem Verfahren im Bundeswahlgesetz, dem Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë). Aber man erhält auch hier ein Verfahren ohne negatives Stimmgewicht, bei richtiger Wahl der Ausgliederungsbedingung. Wenn man Landeslisten, die die Bedingung Zweitstimmen erfüllen, mit Sitzen und Stimmen aus der proportionalen Verteilung nimmt, tritt kein negatives Stimmgewicht mehr auf.

Diese Wahlsysteme lassen sich dann, wie das Wahlsystem von 2008 auch, so beschreiben, daß für jede Partei ein Parteidivisor ermittelt wird, und jede Landesliste erhält dann als Sitzzahl das Maximum aus der Zahl der Direktmandate oder dem gerundeten Quotienten aus Zweitstimmenzahl und Parteidivisor.

Der Ansatz löst auch zwei Anliegen des neuen Gesetzes

1. Auch Stimmen an eine kleine Landesliste sollen sich (positiv) für die Partei auswirken können, selbst dann, wenn die Landesliste selbst keinen eigenen Sitzanspruch aufbringt (FDP Bremen)

2. Landeslisten ohne oder mit wenigen Direktmandaten sollen immer Chancen auf eigene Sitze haben und nicht zum „Steinbruch“ zum Ausgleich überhängender Landeslisten werden (CDU Brandenburg)

Beide Anliegen werden vom minimalinvasiven Minimierungsansatz bzw. vom Herauslöseansatz erfüllt.

Auch mit zwei anderen Ansätzen kommt man zu vertretbaren Kompromissen, wobei Kompromiß sich im wesentlichen auf den zweiten Punkt bezieht, der erste Punkt ist vor allem ein Problem des Koalitionsansatzes und wird auch durch den Absatz 2a nicht beseitigt.

1. Einem Mindestverhältnis von Listensitzen zu Wahlkreissitzen einer Partei. So könnte man einer Partei mit Direktmandaten beispielsweise 10% Listensitze garantieren. Für die CDU bedeutete dies für ein Ergebnis wie 2009, daß sie zu ihren 173 Direktmandaten 17 Listenmandate, also insgesamt 190 Sitze erhielte. (siehe unten)

2. Man kann einen Maximaldivisor für die Unterverteilung der Partei definieren. Der Preis für einen Sitz übersteigt dann niemals diesen Wert. Als Beispiel die Zahl der Wahlberechtigten geteilt durch 598. Die CDU würde dann bei einem Ergebnis wie bei der Bundestagswahl 2009 noch für jeweils rund 100.000 Stimmen einen Sitz bekommen, d.h. einen Listensitz in Bremen und drei in Brandenburg (davon zwei Listensitze).

  Lösung des Problems der Überhangmandate

Der minimalinvasive Ansatz beseitigt negatives Stimmgewicht, mindert aber nur zu einem kleinen Teil das Problem der Überhangmandate.

Beim Problem der Überhangmandate selbst gibt es dagegen keine einfache minimalinvasive Lösung, denn es bleibt das grundlegende Problem, daß Einerwahlkreise, fester Wahlkreismandatsanteil, Proporz und dann noch eine Deckelung der Gesamtsitzzahl nicht gleichzeitig garantiert werden können.

Es ist daher eine Verständigung nötig, an welchen Stellen man zu Abstrichen bereit ist.

Wenn man alle Direktmandate beibehalten will und eine Vergrößerung des Bundestages in Kauf nimmt, kann man die o.g. Verfahren um eine Verteilung von Ausgleichsmandaten ergänzen, ohne daß neues negatives Stimmgewicht bei den Zweitstimmen auftritt (so schlagen Peifer u.a. als „Direktmandatsorientierte Proporzanpassung“ vor 10% der Zahl der Direktmandate als Listensitze zu garantieren und anschließend mit Ausgleichsmandaten für die anderen Parteien Proporz herzustellen).

Natürlich sind auch größere Änderungen beim Wahlsystem denkbar, zum Beispiel die Einführung eines reinen Listenwahlsystems ohne Direktmandate. Es wäre daher wünschenswert gewesen, wenn man über andere Wahlsysteme zumindest nachgedacht hätte, wie einen Wechsel von Einmandatswahlkreisen zu Mehrmandatswahlkreisen, über die sich der Proporz auf Landes- und Bundesebene überträgt, so daß keine Überhangmandate entstehen könnten.

Um am Ende doch zu einem vernünftigen Wahlrecht zu kommen, wäre es wichtig erst einmal miteinander zu reden, alle Modelle auf den Tisch zu legen, Experten zu hören und sich selbst (der Bundestag) über die eigenen Ziele klarzuwerden bzw. über deren Gewichtung, wenn sich diese Ziele nicht alle gleichzeitig erreichen lassen. Das wäre aber das Gegenteil der derzeitigen Politik des Ignorierens und Aussitzens.

Zum Autor: Dr. Martin Fehndrich ist Diplom-Physiker und betreibt seit 1998 die Internetplattform Wahlrecht.de. Er war Beschwerdeführer im Wahlprüfungsverfahren "negatives Stimmgewicht", das das Bundesverfassungsgericht am 3. Juli 2008 entschieden hat. Foto: Matthias Cantow

Die Grafiken wurden von Ulrich Wiesner erstellt, der Berechnungen für eine Vielzahl von Landeslisten, Wahlen, und Wahlsystemen durchgeführt hat. ulrichwiesner.de/stimmgewicht

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