Wahlkampfgeschichten

Im Wahlkampf liegen mitunter die Nerven blank: Ein Kandidat droht wegen einer nicht freigeschalteten Bürgerfrage, eine Abgeordnete schimpft wutentbrannt ins Telefon. Lesen Sie einmal die kleinen Geschichtchen am Rande, die uns entweder zum Grinsen oder zum ungläubigen Kopfschütteln veranlasst haben.

von Martin Reyher, 01.04.2011

Der Pulverdampf aus den jüngsten Wahlkämpfen hat sich inzwischen verzogen, Gelegenheit also, um einmal von den kleinen Geschichtchen im Hintergrund zu erzählen, die uns zum Grinsen oder zum ungläubigen Kopfschütteln veranlasst haben.

Vom alten Herberger Sepp stammt die schöne Weisheit „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“, eine unbestreitbare Tatsache, die in der Politik mitunter in umgekehrter Weise gilt: „Vor der Wahl ist nach der Wahl“. Im Angesicht eines immer näher rückenden Wahltermins stellt manch ein Politiker plötzlich erschrocken fest, dass von der letzten Wahl die ein oder andere Bürgerfrage noch unbeantwortet ist. Und so kommt es, dass zum Beispiel Herr Harms seine Frage aus dem Hamburger Bürgerschaftswahlkampf von 2008 doch noch beantwortet bekommt, und zwar ziemlich genau drei Jahre später, kurz bevor die Wähler in Hamburg wegen der vorgezogenen Wahlen erneut zur Urne gerufen werden.

Noch etwas länger musste sich Lukas gedulden, der vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im Jahr 2006 eine Frage zur Einheitsschule gestellt hatte - die Antwort kam mit vierjähriger Verspätung. Lukas, damals Schüler der Klasse 12, ist inzwischen ein gestandener Mann. Aber es freut einen natürlich, wenn Fragesteller doch noch irgendwann zu ihrer Antwort kommen.

Auf der anderen Seite gibt es Kandidaten, die am liebsten gar nichts mehr wissen wollen von ihren Wahlkampfaktivitäten der Vergangenheit. Man kann inzwischen fast die Uhr danach stellen, dass kurz nach Schließung der Wahllokale Post von Kandidaten bei uns eintrifft, die uns zur Löschung ihrer Profilseite auffordern. In aller Regel handelt es sich um Kandidierende von extremistischen Parteien, die vermutlich irgendwann ihren Namen gegoogelt haben und dann feststellen mussten, dass der erste Treffer auf ihr abgeordnetenwatch.de-Profil verlinkt. Manche sehen nun ihre Chancen bei der Jobsuche gemindert, anderen ist ihre Kandidatur inzwischen nur noch peinlich. Doch niemand wird sich nachträglich aus den offiziellen Wahllisten des Bundes- oder Landeswahlleiters geschweige denn aus dem Archiv der Lokalzeitung löschen können, und so bleibt natürlich auch die Aufforderung zur Tilgung auf abgeordnetenwatch.de erfolglos. Als Bewerber für ein öffentliches Amt sind sie eine Person der Zeitgeschichte, die - das liegt in der Natur der Dinge - deswegen auch im digitalen Wählergedächtnis "abgeordnetenwatch.de" auffindbar bleibt. Da hilft auch kein Drohen mit dem Anwalt.

Hin und wieder erleben wir, dass sich gestandene Abgeordnete im Schutze der Nichtöffentlichkeit etwas im Ton vergreifen. In guter Erinnerung ist der Anruf einer Berliner Bundestagsabgeordneten, die sich im Wahlkampf 2009 über die Thesen des Kandidaten-Checks echauffierte. Ihren Vorwurf, diese seien manipulativ, garnierte sie mit der ein oder anderen nicht druckreifen Beschimpfung. Kurze Zeit später schickte die Dame ein Fax hinterher, in der sie erneut ihren Unmut über die „blöden Fragen“ kundtat und darauf hinwies, dass sie ja „ständig Texte, Antworten etc. liefert“. Das war wohl so zu verstehen, dass Politiker, die mit ihren Antworten auf Bürgerfragen einen user generated content schaffen, bitte eine andere Behandlung verdient haben als mit Kandidaten-Check-Thesen wie „Atomkraftwerke müssen möglichst schnell vom Netz genommen werden“ behelligt zu werden (besagte Abgeordnete antwortete seinerzeit übrigens „stimme nicht zu“).

Ein ähnlich unentspanntes Verhalten im Zusammenhang mit dem Kandidaten-Check legte kürzlich eine baden-württembergische Landtagsabgeordnete an den Tag. Wir hatten ihr wie allen anderen Kandidaten einen Link zu einem Onlineformular geschickt, über das die Kandidierenden die Kandidaten-Check-Thesen bearbeiten und individuelle Begründungen eingeben konnten. In einer kurzen Beschreibung des Kandidaten-Checks greifen wir jedes Mal auf einen Standardtext zurück, in dem es u.a. heißt: „Anders als beim Wahl-o-Mat der Landeszentrale für politische Bildung, die mit ihrem Projekt die Wahlprogramme der Parteien und damit die Zweitstimme abdeckt, ist der Kandidaten-Check auf die Wahlkreiskandidaten zugeschnitten (Erststimme).“ Dieser Standardtext passt bei den allermeisten Wahlen, in Baden-Württemberg allerdings nicht: Dort gibt es nur eine einzige Stimme. Für die Abgeordnete war dies Anlass für folgende Mail:

Wenn Sie ernst genommen werden wollen, sollten Sie sich über das Wahlrecht zur Landtagswahl in Baden- Württemberg informieren!!!!!!! In Ihrem Wahlcheck faseln Sie von Erst - und Zweitstimme, womit Sie sehr anschaulich beweisen, auf welch fragwürdigem Niveau Sie sich bewegen. U
Und sowas will die Bürger unseres Landes aufklären!! Deshalb werde ich mich nicht mehr auf Ihrer Homepage beteiligen. Dies können Sie gern auf meiner Seite veröffentlichen.

Auch wenn die Abgeordnete zweifellos recht damit hat, dass es in Baden-Württemberg keine Erst- und Zweitstimme gibt: Hätte sie sich vor dem Abschicken ihrer Mail die Mühe gemacht, auf die prominent verlinkte Wahlrechtsseite zu klicken, wo das baden-württembergische Wahlrecht korrekt beschrieben wird, dann...., nun ja.

Etwas vorschnell war auch jener Kandidat aus Baden-Württemberg, den wir über die Nichtfreischaltung einer Bürgeranfrage wegen eines Verstoßes gegen unseren Moderations-Codex informierten. Er, so hieß es in seiner Mail, betrachte den ...

... Eingriff in den Ablauf der Fragen und Antworten an dieser Stelle als ungeheuerlichen Übergriff in die Meinungsfreiheit. … Ich fordere Sie hiermit ultimativ auf, noch heute diese Frage offiziell freizuschalten, weil ich mich sonst gezwungen sehe, über unsere Partei damit an die Öffentlichkeit zu gehen, was Ihrem Anliegen der offenen Plattform für Fragen von Bürgern und Antworten von Abgeordneten und Kandidaten schaden dürfte, denn solche Pressemitteilungen von uns werden erfahrungsgemäß sehr wohl von der allgemeinen Presse aufgegriffen.

Eine Drohung wäre gar nicht nötig gewesen, denn bei abgeordnetenwatch.de gilt der Grundsatz: Möchte ein Politiker eine nicht veröffentlichte Frage trotzdem öffentlich beantworten, genügt ein kurzer Hinweis an uns - und wir schalten sie nachträglich frei (mehr...). Über diese Information verfügten auch alle Kandidaten, sofern sie unsere Mail aufmerksam gelesen hatten.

Überaus häufig zu beobachten ist, dass wir Steuerzahler indirekt den persönlichen Wahlkampf einiger Spitzenkandidaten sponsorn. Wer als Ministerpräsident seine Bürgerfragen aus der Staatskanzlei beantworten lässt, nimmt eine öffentliche und aus Steuergeldern finanzierte Behörde in Anspruch, um in eigener Sache Wahlkampf zu betreiben. Wie alle anderen Kandidaten auch, sind die Ministerpräsidenten auf abgeordnetenwatch.de jedoch in ihrer Funktion als Landtagskandidaten vertreten. Als solche dürften sie im Wahlkampf nicht auf Ressourcen aus der Staatskanzlei zurückgreifen. Sie tun es aber oftmals doch.

Was die Großen können, kann ich schon lange, dachte sich wo der Bürgermeister einer Kleinstadt, der jüngst bei einer Landtagswahl kandidierte. Er schickte uns seine Antworten vom offiziellen Mailaccount seiner Gemeinde.

 

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