Eine "mangelhafte" Antwortbilanz und die Frage: Sind Politiker Freiwild?

Gestern ist in der Hessischen-Niedersächsischen Allgemeinen ein Interview (pdf) mit der Bundestagsabgeordneten Ulrike Gottschalck erschienen. Es geht darin um ihr Antwortverhalten auf abgeordnetenwatch.de, oder besser gesagt: es geht um das „Mangelhaft“ für ihr Antwortverhalten.

von Martin Reyher, 20.07.2011

Zum zweiten Mal haben wir die Antwortquoten der Bundestagsabgeordneten in Schulnoten umgerechnet und in unserem Blog veröffentlicht. Auf diese Weise wollen wir die Volksvertreter daran erinnern, dass zahlreiche Bürger noch immer auf die Beantwortung ihrer Frage warten. So wie bei Frau Gottschalck:
Bürgerfrage: Frau Gottschalck, warum werden die unsinnigen Subventionen wie z. B die unterschiedliche Besteuerung von Speisen und Getränken beim Verzehr im Lokal und beim Verkauf über die Straße, Tiernahrung kontra Arzneimittel für Menschen usw. nicht abgebaut? Antwort: Da nicht jedes Thema auf einer öffentlichen Plattform wie abgeordnetenwatch.de diskutiert werden sollte, bitte ich Sie, mir Ihr Anliegen ganz einfach und direkt per E-Mail an ulrike.gottschalck@bundestag.de zu senden oder auf dem Postwege an Ulrike Gottschalck MdB, Platz der Republik 1, 11011 Berlin.
Bürgerfrage: Frau Gottschalck, was tun Sie als Abgeordnete dafür, dass die ungerecht erhobenen Belastungen der Jahre 2007 bis 2009 an die Bürger zurückfließen? Antwort: Vielen Dank für Ihre Anfrage zur steuerlichen Absetzbarkeit des häuslichen Arbeitszimmers. Ich freue mich, dass ich viele Fragen und Anregungen von den Bürgerinnen und Bürgern meines Wahlkreises erhalte, die ich sehr gerne beantworte. Sie können mir Ihr Anliegen sehr gerne direkt per E-Mail an ulrike.gottschalck@bundestag.de senden oder auf dem Postwege an Ulrike Gottschalck MdB, Platz der Republik 1, 11011 Berlin.
Bürgerfrage: Frau Gottschalck, können Sie sich irgendwie zugunsten der Hebammen in die politische Diskussion einbringen? Antwort: Die SPD setzt sich ebenfalls für die Belange der Hebammen ein, denn eine mögliche Gefährdung des Berufstandes darf nicht riskiert werden. Da ich gerne jeder Bürgerin und jedem Bürger persönlich antworte, möchte ich Sie bitten, mir ihre Adresse ganz einfach per E-Mail an ulrike.gottschalck@bundestag.de zu senden oder auf dem Postwege an Ulrike Gottschalck MdB, Platz der Republik 1, 11011 Berlin.

Haben diese Fragesteller tatsächlich eine Antwort auf ihre Frage erhalten? Frau Gottschalck findet ja. Aus unserer Sicht handelt es sich hier lediglich um "Standard-Antworten", also um Antworten, in denen Abgeordnete mitteilen, dass sie auf die öffentlichen Fragen nicht öffentlich antworten werden. Wenn ein Bürger sein Anliegen aber erst per privater Mail an einen Volksvertreter schicken muss, wird nicht nur das Prinzip eines öffentlichen Austausches ad absurdum geführt, sondern auch der Bürger nicht für voll genommen. Denn er hatte ja, davon ist auszugehen, bewusst den öffentlichen Weg der Kontaktaufnahme gewählt. Die Kasseler Bundestagsabgeordnete findet das Prinzip „Standard-Antwort = keine Antwort“ „unseriös“, wie sie in dem Interview mit ihrer Lokalzeitung mitteilt. Sie unterstellt sogar, dass ihre Antworten „offensichtlich nicht in das Konzept von abgeordnetenwatch.de“ passen. In gewisser Weise hat Gottschalck damit sogar recht, denn erklärtes Ziel von abgeordnetenwatch.de ist es, ergänzend zu der nicht-öffentlichen Kommunikation zwischen Bürgern und Abgeordneten eine Möglichkeit des öffentlichen Austausches zu schaffen - für diejenigen (Bürger), die wollen. Am Montag veröffentlichte Frau Gottschalck auf ihrer Website einen Artikel mit der Überschrift „Sind Politiker Freiwild?“. Es geht darin um ihre Antwortbilanz auf abgeordnetenwatch.de. Offen beantwortet wird die Frage nach dem Freiwild zwar nicht, doch zwischen den Zeilen schimmert durch, dass die Antwort nur lauten kann: JA. Sie antworte nur auf direktem Wege, da ihre Erfahrung "schlichtweg zeigt, dass dies für die Bürger erfolgreicher ist." Diese Erfahrung muss Frau Gottschalck allerdings erst in den vergangenen Monaten gemacht haben. Denn jedes mal, wenn es in den Wahlkämpfen der vergangenen Jahren darum ging, Bürgernähe durch das Beantworten von öffentlichen Wähleranfragen zu demonstrieren, war Ulrike Gottschalck mit dabei. Und sie warb zwischen 2008 und 2009 gleich dreimal um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger (Landtagswahl Hessen 2008 und 2009, Bundestagswahl 2009). Auf ihrer Internetseite schreibt Gottschalck nun, dass sie es sich als freie Abgeordnete vorbehalte, "Kommunikationskanäle so zu nutzen, wie ich es für geeignet halte." Selbstverständlich ist ihr und allen anderen Volksvertretern zugestanden, sich auf die Freiheit ihres Mandats zu berufen. Aber in einer Demokratie ist es noch immer so, dass die Macht vom Volke ausgeht. Insofern ist es nur legitim, dass die Bürger selbst darüber entscheiden, auf welchem Weg sie die politischen Entscheidungsträger ansprechen möchten. Niemand zwingt einen Abgeordneten, öffentlich zu antworten. Wenn er nicht antworten möchte oder - was letzten Endes auf dasselbe herauskommt - nur auf eine nicht-öffentliche Kontaktmöglichkeit verweist, vermerken wir dies auf abgeordnetenwatch.de entsprechend. Gottschalck hält es für eine „Anmaßung, meine politische Arbeit auf fünf angeblich nicht beantwortete Fragen zu reduzieren“. Über ihre politische Arbeit hatte allerdings gar niemand eine Aussage getroffen, sondern lediglich über ihre Antwortquote auf abgeordnetenwatch.de. Niemand spricht Frau Gottschalck ab, die Bürgermails unter vier Augen persönlich, kompetent und ausführlich zu beantworten. Bei öffentlich gestellten Fragen gilt dies jedoch augenscheinlich nicht.

Auffallend ist, dass es oftmals die Antwortverweigerer sind, die sich für besonders transparent halten. So auch Ulrike Gottschalck. „Ich gehöre zu den transparenten Abgeordneten“, verbreitet sie in ihrer Lokalzeitung. Vergangenes Jahr hatte Gottschalck in ähnlicher Angelegenheit ("Kritik an Test durch Internetplattform: Abgeordnete schlagen zurück") öffentlich via HNA mitgeteilt, sie werde „auch zukünftig alle Bürgeranfragen individuell und vertraulich behandeln“ (pdf). Warum eine transparente Abgeordnete öffentliche Fragen vertraulich behandelt - vielleicht erfahren dies die Leser der HNA dann im kommenden Jahr...

 

Nachtrag: Auf unserer Facebookseite macht uns ein User darauf aufmerksam, dass es sich bei Frau Gottschalcks Antwort vom 30.7.2010 um keine "Standard-Antwort", sondern um eine reguläre Antwort handelt. Das Schreiben von Frau Gottschalck ist in der Tat keine standardisierte Antwort, wie von uns zunächst angegeben, denn sie erklärt auf eine entsprechende Frage, warum sie nicht öffentlich antworten möchte. Wir haben dies nun korrigiert und bitten den Fehler zu entschuldigen. Allerdings ändern auch zwei (reguläre) Antworten bei fünf Bürgerfragen nichts an einer insgesamt mangelhaften Antwortbilanz.

 

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