Die Geheimniskrämer aus dem Bundestag: Wie sich eine Behörde selbst lahmlegt

Weil die Bundestagsverwaltung sich weigert, mehrere tausend Gutachten ins Netz zu stellen, wird sie seit Beginn der Woche mit hunderten Bürgeranfragen geflutet. Allein mit dem Versand der Eingangsbestätigung wird ein Verwaltungsmitarbeiter mehrere Wochen beschäftigt sein - und das ist erst der Anfang.

von Martin Reyher, 28.01.2016

In der Nacht vom 13. auf den 14. Januar liefen 2.200 Mails im Posteingang des Deutschen Bundestages auf. Abgeschickt hatte sie ein Bürger, oder besser gesagt: ein von ihm programmiertes Tool.

Als die Mitarbeiter im Referat IV der Bundestagsverwaltung am nächsten Morgen ihre Rechner hochfuhren, fanden sie jedoch keine dubiosen Werbemails für Penisverlängerungen oder Potenzmittel vor, sondern die ernsthaften Anträge eines Bürgers auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG). Mit seinen Mails hatte er 2.200 Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes angefordert - ein Recht, das nach dem IFG allen Bürgerinnen und Bürgern zusteht.

Die Mailaktion war in gewisser Weise Notwehr gegen die Transparenzverweigerung des Deutschen Bundestages. Zwar können wir Bürgerinnen und Bürger die vom Wissenschaftlichen Dienst erstellten Gutachten einsehen. Weil der Bundestag sich aber bislang weigert, seine Ausarbeitungen von sich aus im Netz zu veröffentlichen, bleibt nur der umständliche Weg über die Mailanfragen.

Damit schafft sich die Bundestagsverwaltung allerdings ein gewaltiges Problem. Welche Dimension dieses hat, geht aus dem Antwortschreiben hervor, das ein Regierungsdirektor am 18. Januar an den Bürger mit den 2.200 IFG-Anfragen verfasste:

"Bereits die Ersterfassung, Registrierung und Eingangsbestätigung aller [2.200] IFG-Anfragen als Einzelanträge würde bei einer Bearbeitungszeit von rund 5 Minuten pro Antrag dazu führen, dass bereits ausschließlich hierfür rund 180 Stunden benötigt werden, mithin 4 1/2 Wochen für einen Bearbeiter."

Seit vergangenem Montag sieht sich die Bundestagsverwaltung mit einer zweiten Welle von Bürgeranfragen konfrontiert, deren Bearbeitung das Referat IV monatelang beschäftigen dürfte. An diesem Tag nämlich ging das Portal FragDenBundestag.de, eine Kooperation von fragdenstaat.de und abgeordnetenwatch.de, online, das Bürgerinnen und Bürgern das Bestellen der Bundestagsgutachten erleichert: Mit wenigen Mausklicks können sie die Ausarbeitungen anfordern und nach Erhalt auf dem Portal hochladen - so profitiert davon am Ende die Allgemeinheit. Denn bei den vom Bundestag zurückgehaltenen Gutachten handelt es um eine beispiellose (und aus Steuermitteln bezahlte) Ansammlung von Expertenwissen - für Journalisten, Studierende oder zivilgesellschaftliche Organisationen ein wahrer Schatz.

166 Arbeitstage - und Kosten in Höhe von 184.000 Euro

In den ersten vier Tagen seit Onlinestart von FragDenBundestag.de haben Bürgerinnen und Bürger schon mehr als 1.000 Gutachten über das Portal beantragt - es dürfte nicht lange dauern, bis beim Bundestag Anfragen zu allen rund 4.000 Gutachten der Jahre 2005 bis 2015 eingegangen sind.

Was dies für die Parlamentsverwaltung bedeutet, lässt sich an folgender kleinen Modellrechnung veranschaulichen:

  • Allein für Ersterfassung, Registrierung und Eingangsbestätigung der 4.000 Bürgeranfragen zu den Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes wird ein Mitarbeiter bei einer Bearbeitungszeit von jeweils 5 Minuten insgesamt 20.000 Minuten beschäftigt sein. Das entspricht 333 Stunden oder 42 Arbeitstage á 8 Stunden.
  • Allerdings sind damit die IFG-Anfragen der Bürgerinnen und Bürger lediglich erfasst und bestätigt - aber noch kein Gutachten herausgesucht, ausgedruckt, mit einem Anschreiben versehen, kuvertiert und verschickt. Veranschlagt man für all diese Schritte weitere 15 Minuten pro Gutachten - eine äußerst konservative Annahme -, kämen zur vollständigen Abarbeitung aller 4.000 Bürgeranfragen weitere 1.000 Arbeitsstunden oder 125 Arbeitstage hinzu.
  • Unter dem Strich dürfte die Bundestagsverwaltung also mindestens 167 Arbeitstage damit beschäftigt sein, alle 4.000 angeforderten Gutachten an die Bürgerinnen und Bürger zu schicken. Was die Kosten angeht: Das gemeinnützige Recherchezentrum Correctiv rechnet vor, dass sich Personal- und Materialkosten (u.a. Porto) auf 184.000 Euro summieren werden - mindestens.

Und das alles, weil sich der Bundestag bislang weigert, seine Gutachten frei zugänglich ins Netz zu stellen! [Update 18.2.2016: Unter dem Druck der vielen Bürgeranfragen hat der Bundestag nun doch entschieden, die Gutachten von sich aus ins Netz zu stellen. Das teilte Parlamentspräsident Norbert Lammert in einer internen Mail an die Abgeordneten mir. Mehr: Bundestag gibt Geheimniskrämerei auf und stellt tausende Gutachten ins Netz.]

abgeordnetenwatch.de und fragdenstaat.de appellieren deswegen an die Bundestagsverwaltung, dem Irrsinn ein Ende zu bereiten und endlich sämtliche Gutachten im Internet zu veröffentlichen. Denn während deren Beamte gerade damit beschäftigt sind, die über 1.000 seit Montag eingegangen Bürgeranfragen erst einmal zu erfassen, wird der Bearbeitungsstau bei älteren IFG-Anfragen größer und größer.

Seit nunmehr einem halben Jahr warten wir beispielsweise darauf, vom Bundestag alle internen Korrespondenzen und Aktenvermerke mit Bezug zu einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Juni 2015 zu erhalten - also jenem Richterspruch, mit dem die Bundestagsverwaltung höchstrichterlich zur Herausgabe der Gutachten gezwungen wurde. Von den Dokumenten erhoffen wir uns Aufschluss darüber, warum sich der Parlamentsverwaltung noch immer weigert, die wissenschaftlichen Ausarbeitungen öffentlich ins Netz zu stellen.

Update vom 11. Februar 2016:

Gestern berichtete der MDR über die Weigerung des Bundestages, die aus Steuermitteln finanzierten Gutachten im Internet zugänglich zu machen. Weder Bundestagspräsident Norbert Lammert noch der Wissenschaftliche Dienst wollten sich dazu vor der Kamera äußern.

Derzeit warten rund 2.000 Gutachten darauf, aus den Aktenschränken des Deutschen Bundestages befreit zu werden. Über FragDenBundestag.de können Sie sie per Knopfdruck bei der Parlamentsverwaltung anfordern und später der Allgemeinheit zugänglich machen.

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