Wie das Hamburger Wahlrecht die Demokratie stärkt

Statt wenigen Parteifunktionären entscheiden in Hamburg die Wählerinnen und Wähler darüber, welche Politiker über die Landesliste ins Parlament einziehen. Doch das ist den meisten Parteien ein Dorn im Auge, weil so auch unbequeme Kandidierende eine Chance bekommen. Plädoyer für ein demokratisches und gerechtes Wahlrecht - und eine Analyse, welche Kandidierenden davon profitieren konnten.

von Redaktion abgeordnetenwatch.de, 17.03.2015

Von Simone Kopietz

Das Hamburger Wahlrecht ist eine gute Möglichkeit, die neuen Herausforderungen der Demokratie zu meistern. Leider haben das noch nicht alle erkannt.

Bundesweit sinkt die Wahlbeteiligung. Kommunalwahlen, Landtagswahlen, Bundestagswahl, Europawahl – fast bei jeder Wahl wird ein neuer Tiefstand gemessen. Das ist traurig und vor allem sollte es zu denken geben. Wie schon nach der letzten Bürgerschaftswahl versuchen in Hamburg nun einige dem von Parteien ungeliebten Wahlrecht die Schuld an der niedrigen Wahlbeteiligung zu geben. Das ist billige Rhetorik und löst leider keine Probleme.

Das Hamburger Wahlrecht ist kaum komplizierter als das Bundestagswahlrecht und bietet dabei viel mehr Möglichkeiten. Denn normalerweise entscheiden einige wenige Parteimitglieder auf Parteitagen darüber, welche Kandidatin oder welcher Kandidat auf welchem Listenplatz steht. Und damit bestimmen sie letztendlich auch, wer in das jeweilige Parlament einziehen wird. Die Wählerinnen und Wähler in Hamburg hingegen können ihre 10 Stimmen direkt an Personen vergeben und so nicht nur die parteiliche, sondern auch die personelle Zusammensetzung der Bürgerschaft bestimmen.

Das Hamburger Wahlrecht ist also gerechter und demokratischer. Bei der diesmaligen Bürgerschaft zeigte sich das insbesondere bei der Listenwahl. Von den insgesamt 121 Abgeordneten sind 71 über die Wahlkreise und 50 über die Listenwahl in die Hamburger Bürgerschaft eingezogen. Dabei hat sich fast die Hälfte (47%) der Wählerinnen und Wähler dazu entschieden, ihre Listenstimme nicht nur einfach einer Partei, sondern einer bestimmten Person zu geben. Die Folge: Nur 26 der 50 Listengewählten sind aufgrund ihrer parteigegebenen Listenposition eingezogen, 24 Personen hingegen durch den ausdrücklichen Willen der Hamburgerinnnen und Hamburger. Dabei haben sie mit der Unterstützung der Wählerinnen und Wähler in den meisten Fällen höher gelistete Mitstreiterinnen und Mitstreiter ihrer Partei überholt. In der CDU ist beispielsweise der ursprünglich elftplatzierte Joachim Lenders als zweiter Listenkandidat eingezogen, bei den Grünen gelang dies  Nebahat Güclü, für die ihre Partei sogar nur den Listenplatz 25 vorgesehen hatte. Und die SPD-Wählerinnen und Wähler entschieden sich auf diese Weise sogar für den viertletzten Kandidaten auf der Landesliste: von der eigenen Partei nur mit Listenplatz 57 bedacht, konnte Danial Ilkhanipour durch das Votum der Wählerinnen und Wähler dennoch in die Bürgerschaft einziehen.

Die Auswirkung dieser Mitbestimmungsmöglichkeit lässt besonders gut bei den Personenstimmen der SPD-Abgeordneten erkennen.

Doch was genau wollen die Wählerinnen und Wähler und was bekommen sie angeboten? Die Frage nach der geschlechtlichen Verteilung auf dem Wahlzettel betrifft jede und jeden. Dabei zeigt das Verhältnis von Männern und Frauen auch unter den Kandidierenden für die Hamburgische Bürgerschaft das gewohnte Ungleichgewicht von zwei zu einem Drittel zugunsten der Männer.

Dass dies nicht im Interesse der Wählerinnen und Wähler liegt, darauf deutet der höhere durchschnittliche Anteil von Personenstimmen für Frauen (4,2%) im Gegensatz zu Männern (3,0%) hin. Dabei sind die hier genannten Stimmenanteile jeweils unter Ausschluss des ersten Listenplatzes und in Bezug auf die jeweilige Partei berechnet, so dass sowohl die besondere Stellung der Spitzenkandidatinnen und -kandidaten als auch die unterschiedliche Performanz der Parteien berücksichtigt wurde. Keine Berücksichtigung finden in diesem Überblick das unterschiedliche Wählerverhalten je nach Parteipräferenz sowie die unterschiedlichen innerparteilichen Regelungen und möglicherweise Bevorzugungen bestimmter Personengruppen. Vielmehr handelt es sich um den Gesamteindruck, den alle Parteien mitbestimmen.

Erstaunlich positiv fällt dieser parteiübergreifende Eindruck bei der Platzierung von Männer und Frauen auf den jeweiligen Landeslisten aus: Sie verteilen sich nahezu gleichberechtigt auf die vorderen, mittleren und hinteren Listenplätze mit nur leichter Bevorzugung von Frauen im ersten Listenviertel.

Ein weiteres Merkmal, das dem Stimmzettel entnommen werden kann, ist der Berufs- bzw. Bildungshintergrund. Hier hat sich in der Analyse abgezeichnet, dass sich ein kaufmännischer, unternehmerischer als auch wirtschaftswissenschaftlicher Hintergrund negativ auf den Stimmenanteil auswirkt. Dies ist insbesondere bei Unternehmensberaterinnen und -beratern sowie selbständigen Personen oder Geschäftsführerinnen und -führern zu erkennen. Die vereinfachende Zusammenfassung all dieser beruflichen Hintergründe ergibt, dass die insgesamt 102 Kandidatinnen und Kandidaten mit einer solchen Angabe auf dem Stimmzettel im Schnitt einen nur halb so großen Stimmenanteil (2,0%) verzeichnen wie Personen ohne einen solchen Hintergrund (3,9%) – ein Nachteil, der sich unabhängig von einer vorderen, mittleren oder hinteren Listenposition durchzieht.

Deutlich größeres Vertrauen bringen die Wählerinnen und Wähler Personen aus dem Gesundheits- sowie aus dem Bildungswesen entgegen. Dabei ist es egal, ob Ärztin bzw. Arzt oder Altenpflegerinnen und -pfleger. Zusammengenommen erreichen Kandidatinnen und Kandidaten, die im Gesundheitswesen aktiv sind, einen mehr als doppelt so hohen durchschnittlichen Stimmenanteil (7,3%) als der Rest (3,1%). Kandidierende aus dem Bildungswesen verzeichnen einen Vorteil von 4,7% zu 3,3%. Allerdings profitieren beide Gruppen auch durch bessere Listenpositionen: 15 der 22 Personen aus dem Gesundheitswesen sowie 18 der 32 Personen aus dem Bildungswesen waren in der jeweils ersten Listenhälfte platziert und genau dort haben sie ihren Vorteil auch geltend machen können.

Keinen Vor- oder Nachteil hingegen bringt eine Tätigkeit oder Ausbildung mit juristischem Hintergrund – in den meisten Fällen Juristen oder Anwälte. Die insgesamt 45 Kandidierenden dieser Berufs- und Ausbildungsgruppe nehmen zwar verhältnismäßig selten Plätze im letzten Viertel der jeweiligen Landesliste ein, sind mit einem durchschnittlichen Stimmenanteil von 3,1% jedoch nicht erfolgreicher als der Gesamtdurchschnitt (3,4%).

Eine Tendenz, die sich seit der letzten Bürgerschaftswahl fortsetzt, ist übrigens die häufige Stimmenvergabe für den jeweils letzten Listenplatz. Die Letztplatzierten aller 13 Landeslisten haben im Schnitt einen Anteil von 8,8% erhalten, also deutlich über dem Gesamtdurchschnitt (3,4%). Dies hat allerdings in keinem Fall dazu geführt, dass ein Listenmandat über die Personenstimmen gewonnen werden konnte.

Die Wahlergebnisse (vorläufiges Endergebnis) für alle 887 Kandidatinnen und Kandidaten haben wir hier zusammengetragen.

Mitarbeit: Roman Ebener

Nachtrag:
Warum das Hamburger Wahlrecht bei einigen Politikern und Funktionären nicht sehr beliebt ist, zeigen zum Beispiel folgende Tweets des Landesgeschäftsführers der Jungen Union Hamburg als Reaktion auf obenstehenden Artikel:
 

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